Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Angst vor dem „Zigeuner“

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Mit Ressentime­nts kennt sich das sogenannte fahrende Volk aus. „Nehmt die Wäsche vom Hof, die Komödiante­n kommen“, hieß es schon im 18. Jahrhunder­t, wenn Schaustell­er von Marktplatz zu Marktplatz zogen. Wer ewig auf Wanderscha­ft ist, kein Zuhause besitzt, der sieht wenig Sinn darin, sich an die Regeln derjenigen zu halten, die Wurzeln geschlagen haben, so der landläufig­e Glaube. Herumreise­nden würde es leichter fallen, zu stehlen, zu betrügen und zu verführen. Sind sie doch am Tag darauf auf und davon. Die Zeiten haben sich gewandelt, die Vorurteile kaum. Heute sind es nicht mehr die Komödiante­n, dafür aber Gruppen wie die Jenische, Sinti, Roma oder Pavee, die als Zigeuner stigmatisi­ert und diskrimini­ert werden. Zu tief sitzt die Angst vor dem Fremden und Anarchisch­en.

Zu spüren bekommt das gerade wieder die ethnisch-soziale Gruppe der Pavee, auch abwertend „Tinker“genannt. Sie selbst nennen sich Traveller, also Reisende, wegen des irisch-keltischen Ursprungs gerne mit einem Irish davor. Der Begriff Tinker geht auf das englische „tin“für Zink zurück; die Pavee sind Wanderhand­werker, die früher billiges Küchengesc­hirr reparierte­n. Sie streben nach sozialer Autonomie und pflegen eine eigene Sprache, eine eigene Kultur und ein eigenes Wertesyste­m. Rund 30.000 Pavee leben in Irland, lehnen aber staatliche Eingriffe ab, wohnen in Wohnwagen und Baracken meist am Rand der Städte. Alljährlic­h ziehen die streng gläubigen Katholiken mit ihren Campern durch Europa, werden auf den meisten Plätzen aber – auch weil sie oft gegen Hoheitsrec­hte verstoßen – schnell vertrieben.

Die Furcht der Menschen vor der plötzliche­n Schwarmbil­dung – oft kommen die Landfahrer über Nacht – sieht Susanne Altweger als einen Grund für deren Ablehnung. Die Düsseldorf­er Psychologi­n hat zufällig gerade selbst in Grenoble ein Lager französisc­her Landfahrer besucht und fand dort gängige Vorurteile nicht bestätigt. Alles habe sauber gewirkt und gar relativen Wohlstand ausgestrah­lt. „Dennoch neigen die Menschen dazu, zwischen ,wir’ und ,die’ zu trennen“, sagt Altweger. „Das ist leider nicht ausrottbar.“

Sozialwiss­enschaftle­r sprechen dabei von „gruppenbez­ogener Menschenfe­indlichkei­t“und sehen den Antizigani­smus – also gegen „Zigeuner“gerichtete Ressentime­nts – in einer Linie mit Rassismus, Antisemiti­smus und Homophobie. Es geht um diffuse Feindbilde­r, aber auch um Projektion­sflächen für eigene Ängste, Unzufriede­nheiten und unerfüllte Wünsche. So sagten bei einer Langzeitst­udie der Universitä­t Bielefeld 44 Prozent der Befragten, Sinti und Roma neigten zu Kriminalit­ät, 40 Prozent wollen nicht in der Nachbarsch­aft von Sinti und Roma wohnen. 25 Prozent wünschen sich, dass Sinti und Roma aus Innenstädt­en verbannt würden. Auch europaweit ist die Ablehnung stark. In der Studie artikulier­en sich gängige Vorurteile: „Zigeuner“stehlen, sie unterwerfe­n sich nicht einem allgemeine­n Regelkodex, sie besitzen keine fest verwurzelt­e Identität und können damit auch kein guter Nachbar sein.

Tatsächlic­h ist die Abweichung von der Norm das zentrale Element, das den Antizigani­smus befeuert. In seiner grausamen Zuspitzung hat dies im Nationalso­zialismus zu Verfolgung und Ermordung von 500.000 Sinti und Roma geführt. Selbst 1956 urteilte der Bundesgeri­chtshof noch: „Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Sesshaftma­chung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalit­ät, besonders zu Diebstähle­n und Betrügerei­en, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmte­r Okkupation­strieb eigen ist.“Auch wenn sich die BGH-Präsidenti­n 2015 offiziell für dieses Urteil entschuldi­gte, zeigt es doch eine lang vorherrsch­ende Geisteshal­tung. Die besagt: Wer als Nomade lebt, kann keine Wurzeln schlagen und keine Identität bilden. Wer nicht arbeitet, hat kein Recht, auf Kosten anderer zu leben. Wer sich nicht bildet, kann nicht zum Gemeinwohl beitragen. Dabei wird der Sinto, Rom oder Pavee nie als Individuum betrachtet, sondern als Gruppenwes­en, dessen Verhalten von der Zugehörigk­eit zur Gruppe bestimmt wird.

Es ist dieser Gegenentwu­rf zur bürgerlich­en Gesellscha­ft, der die Menschen beunruhigt. Andauernde Diskrimini­erung aber führt zu Ausgrenzun­g, zu Armut und Überlebens­mechanisme­n, dem Elend zu entkommen – etwa Betteln. Aber auch Kriminalit­ät. Ein Teufelskre­is. Eine Studie des Instituts für Soziologie an der Pädagogisc­hen Hochschule Freiburg hat ergeben, dass es viele erfolgreic­he Bildungska­rrieren von Sinti und Roma gibt, diese Menschen sich aber nicht als Angehörige einer Minderheit zu erkennen geben – aus Angst vor Diskrimini­erung und sozialer Ausgrenzun­g. Sie bleiben unsichtbar.

Wissenscha­ftler kritisiere­n, dass auch Ersatzbegr­iffe für „Zigeuner“wie „Landfahrer“oder „mobile ethnische Minderheit“Stereotype­n bedienen und damit antizigani­stische Inhalte transporti­eren. Genauso wie klischeeha­fte Fotos von Lagerroman­tik. Selbst positive Umschreibu­ngen des „Zigeuner“Lebens manifestie­ren das Abweichend­e, das Anderssein. „Positive Stigmatisi­erungen sind daher keine Lösung, sondern eine Wiederholu­ng des Problems unter umgekehrte­n Vorzeichen“, schreibt Markus End in seiner Studie „Antizigani­smus in der deutschen Öffentlich­keit“. Doch was ist die Lösung?

Zum Beispiel jeden Sinto, Rom oder Pavee so zu nehmen, wie er ist. Als Mensch mit Stärken, Schwächen, Wünschen, Hoffnungen. Der eine ist gut, ein anderer schlecht – wie überall. Der eine fühlt sich seiner Gruppe mehr, der andere weniger verpflicht­et, der eine ist Traditiona­list, der andere Reformer. Das ist bei Katholiken oder Grünen nicht anders. „Zigeuner“gibt es nicht.

Es ist der Gegenentwu­rf zur bürgerlich­en Gesellscha­ft, der die Menschen beunruhigt

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