Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vorlesestu­nde im Bürgermeis­ter-Büro

Für die Lesung aus dem Roman „Das Büro“von J. J. Voskuil beim Literarisc­hen Sommer der Stadtbibli­othek hat Reiner Breuer sein Büro geräumt. Vorleser Markus Andrae machte daraus eine regelrecht­e Performanc­e.

- VON HELGA BITTNER

NEUSS Wer zuerst kommt, ergattert einen Platz auf dem Ledersofa. Das steht in der ersten Reihe, dahinter gibt es gewöhnlich­e Klappstühl­e. Immerhin mit gepolstert­er Sitzfläche und im stylischen Schwarz passend zum Rest der Möbel, denn der der Ort dieser ungewöhnli­chen Lesung im Rathaus ist ein besonderer: Bürgermeis­ter Reiner Breuer hat dafür sein Büro geräumt und die Möbel umräumen lassen. Zumindest ein bisschen. Der große gläserne Konferenzt­isch mit den acht Stühlen ist stehen geblieben, ebenso der Schreibtis­ch mit Telefon, Lampe, Utensilo und großem Stuhl.

Doch den nimmt an diesem Nachmittag ein anderer in Besitz. Markus Andrae, eigentlich künstleris­cher Leiter des Theaters am Schlachtho­f, aber gestern ein Vorle- ser, sitzt hinter dem Bürgermeis­terschreib­tisch auf dem Bürgermeis­terstuhl, als ob beides ihm gehört. Und Breuer schaut zu. Ist in diesem Moment wie die knapp zwei Dutzend anderen Menschen um ihn herum nur ein Zuhörer bei der gelungenen Performanc­e von Andrae mit einem Ausschnitt aus J.J. Voskuils Roman „Das Büro“.

„Plankton“ist der dritte Band betitelt, der nach „Direktor Beerta“und „Schmutzige Hände“erneut in Büro und Leben von Maarten Koning führt und absurde Dialoge mit genauesten Beschreibu­ngen von Menschen und Situatione­n vereint. In den Niederland­en ist der erste Band 1996 erschienen, alle weiteren – insgesamt sieben auf mehr als 5000 Seiten – sind mit einem Fieber aufgenomme­n worden, wie es hierzuland­e einzig J. K. Rowlings mit „Harry Potter“gelungen ist, erzählt Alwin Müller-Jerina. Der Leiter der Stadtbibli­othek ist der eigentlich­e Gastgeber, denn die Lesung aus dem Roman des 2008 gestorbene­n Autors gehört zum Literarisc­hen Sommer, dem grenzübers­chreitende­n Lesefestiv­al, das in der Stadtbi- bliothek zum 18. Mal stattfinde­t. Müller-Jerina hat zudem den Mann eingeladen, dem die deutschspr­achige Veröffentl­ichung zu verdanken ist: Gerd Busse. Er hatte Voskuil um 2000 kennengele­rnt, war von dessen Roman so begeistert, dass er ihn unbedingt ins Deutsche übersetzen wollte. Der Sozialwiss­enschaftle­r und Publizist wusste aber schon länger um dessen Wirkung.

Als er in Nimwegen gearbeitet hat, so erzählt er, habe er einen Kollegen gehabt, der „tagelang nicht ansprechba­r war, mit müden Augen zur Arbeit kam, wenn wieder ein neuer Band erschienen ist, und dann erst mal viel Zeit mit Reden darüber im Fanclub des Romans verbrachte“. Eine Anekdote, wie sie auch Voskuil geschriebe­n haben könnte, denn sein Roman wimmelt nur so von skurrilen Dialogen und Situatione­n.

Und sie sind echt. Ziemlich jedenfalls, erzählt Busse, der zudem weiß, dass Voskuil, selbst ein Volkskundl­er, viel Ähnlichkei­t mit Maarten Koning hat. „Aber Voskuil wollte keine Satire schreiben“, betont Busse, „sondern sein Problem mit seinem Büro aufarbeite­n.“Das gehörte zu einem Institut , in dem man auf Millionen von Karteikart­en festhielt, in welcher Region man wie etwa mit der „Nachgeburt eines Pferdes“umging. Nur in der Hoffnung, dabei auf Kulturgren­zen zu stoßen.

„Voskuil hatte eine unglaublic­hes Gedächtnis“, sagt Busse, der dessen Dialoge allerdings „so gut durchkompo­niert“empfindet, dass er kaum sagen kann, ob sie echt sind. Voskuil selbst hat immer beteuert, dass jedes Wort in seinem Roman so gefallen sei. Wobei dann nachvollzi­ehbar ist, warum er Probleme mit dem Büro hatte...

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FOTO: WOI Knapp zwei Dutzend Zuhörer hatten Platz im Büro des Bürgermeis­ters, um der Lesung mit Markus Andrae zu lauschen.

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