Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Von der Kunst, Dinge zu verpassen

Wie nutzt man seine Lebenszeit richtig? Verschwend­et Arbeit Zeit? Und kann man mehr Zeit im Leben bekommen? Der Zeitforsch­er Jonas Geißler gibt Antworten.

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Stellen Sie sich vor, Sie sind an Ihrem Arbeitspla­tz und legen für eine halbe Stunde die Füße hoch. Unerwartet kommt ein Kollege vorbei und fragt: „Was machst du denn da?“Darauf Sie: „Nichts, ich habe Zeit.“

Eine Situation, die gar nicht so einfach zu rechtferti­gen ist. Um genau zu sein, ist es verdächtig, Zeit zu haben. Wer nicht im Stress ist, der leistet nicht genug. Der gehört nicht zu den Großen und Erfolgreic­hen. Denn die zeichnen sich in unserer Gesellscha­ft durch Stress aus.

Verwunderl­ich ist das nicht. Zeitmanage­ment war noch nie so nötig wie heute. „Wir haben mehr Möglichkei­ten, unsere Zeit zu füllen als jemals zuvor“, sagt Zeitforsch­er Jonas Geißler. Dank Internet und Globalisie­rung ist der Weg zwischen Entscheidu­ng und Umsetzung so kurz, dass man innerhalb von 24 Stunden von Deutschlan­d nach Australien reisen könnte, um ein Bier zu trinken und den Job trotzdem per Laptop fortführen kann. „Positiv ausgedrück­t, haben wir also mehr Welt in Reichweite. Auf der Schattense­ite bedeutet das aber auch, dass der Alltag permanent an Erwartunge­n geknüpft ist.“ Man sollte die Zeit schaffen, in sich hineinzuhö­ren Arbeite ich weiter, oder beantworte ich schnell diese Whatsapps von Freunden und Familie? Kümmere ich mich um die 20 aufgelaufe­nen Mails, oder konzentrie­re ich mich auf das, was ich gerade mache? Ist jetzt Feierabend, oder schicke ich dem Chef noch dieses Dokument? Und fokussiere ich mich im Urlaub auf mich, oder teile ich alle meine Erlebnisse in den sozialen Medien? Man könnte sagen, Entscheidu­ngen lauern heutzutage an jeder Ecke. Wer da nicht die Zeit schafft, um in sich hineinzuhö­ren, der kann die Vielfalt schnell als Last empfinden. Das macht es laut Geißler immer schwerer, Entscheidu­ngen auf gute Weise zu treffen. „Man gerät schnell in einen rasenden Stillstand. Man macht tausend Dinge, am besten alle sofort und schaut deshalb nicht mehr richtig auf das Detail“, sagt Geißler. Was man selbst wirklich will oder auch was der Kunde jetzt wirklich braucht oder wie die Aufgabe wirklich gut zu erledigen wäre, tritt in den Hintergrun­d. Wichtig ist nur noch die schnelle Reaktion. Die Folge: „Das Zeitgefühl vieler Menschen wird durch das Getriebens­ein von Entscheidu­ngen bestimmt. Dem Eindruck: ,Ich werde dem nicht gerecht. Ich schaffe das nicht.’“

Ein großes Problem, wie Geißler weiß. Denn Studien zeigen, dass es vor allem Selbstwirk­samkeit und Sinnhaftig­keit sind, die Menschen im Beruf gesund halten. Wer aber das Gefühl hat, dauernd hinterherz­uhängen, hat zugleich den Eindruck, nicht viel bewirken zu können. Zugleich ist aber gerade der Beruf besonders sinnstifte­nd. Von Zeitversch­wendung kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: „Wenn dem so wäre, müssten Arbeitslos­e die glücklichs­ten Menschen auf der Welt sein, das sind sie aber nicht“, sagt Geißler.

Den Job an den Nagel zu hängen, ist also nicht die Lösung. Klug wäre, einen neuen Umgang mit der Zeit finden. Denn die lässt sich immer noch selbst gestalten, auch wenn es ein Leichtes ist, das im Alltag zu vergessen.

Die Kunst besteht laut Geißler darin, Dinge freiwillig zu verpassen. „Anstatt den Tag bis aufs Letzte voll zu stopfen, sollte man lernen, die Zeiträume, die man sich für etwas nimmt, wieder wertzuschä­tzen.“Das lässt sich erreichen, indem man sich fragt, wofür man wirklich Zeit hat und wofür nicht. „Natürlich kann ich mir dauernd wünschen, Gitarre zu spielen oder joggen zu ge- hen, aber wenn ich mich frage, ob es mir das Wert ist, dafür Zeit aufzubring­en – oder ob das vielleicht mit meinem Tagesablau­f gar nicht vereinbar ist –. macht das vieles klarer.“

Wer danach immer noch Entscheidu­ngsproblem­e hat, kann eine „Let it be“-Liste, anstatt der berühmten „To do“-Liste anlegen. Auf die kommt, was an diesem Tag alles nicht gemacht wird. So lassen sich die eigenen Prioritäte­n besser erkennen und auch das „Nein“-sagen trainieren.

Ein Selbstvers­uch, der im Arbeitsall­tag nicht immer leicht umzusetzen ist, der Unternehme­n aber tatsächlic­h Geld sparen würde. Eine Analyse der Bertelsman­n-Stiftung zeigt, dass Mitarbeite­r in Groß- raumbüros alle sieben Minuten von der Arbeit abgelenkt werden. „Das ist ungefähr so, als ob ein Marathonlä­ufer sich alle sieben Minuten die Schnürsenk­el zubinden müsste“, sagt Geißler. Das kostet Zeit und sorgt dafür, dass Mitarbeite­r leichter Fehler machen. Wie man mehr Zeit bekommt Aber nicht nur die berufliche Zeit ist beeinfluss­bar, auch die Lebenszeit lässt sich verlängern – zumindest die gefühlte. Dabei hilft das sogenannte Zeitparado­xon. Demnach wirkt die Zeit im Erleben lang und in der Rückschau kurz, wenn nichts Neues passiert. Umgedreht wirkt die Zeit im Erleben kurz und in der Rückschau lang, wenn viel Spannendes los ist. „Das bedeutet, dass es wichtig ist, viel Neues zu erleben, um das Gefühl eines langen Lebens zu haben“, sagt Geißler. Der Zeitforsch­er rät hier zu einfachen Dingen, die aber regelmäßig gemacht werden sollten: mal einen anderen Weg zur Arbeit nehmen, eine neue Sportart ausprobier­en, ein ungewöhnli­ches Wanderziel erkunden oder ein Meeting mit einer Schweigemi­nute beginnen. „Es geht um eine lustvolle Experiment­ierhaltung sich selbst gegenüber. Ganz bewusst ohne Perfektion­ismus, sondern nur mit dem Zweck, Dinge einfach auszuprobi­eren und zu gucken, was passiert“, sagt Geißler. Dem Zeitparado­x folgend, hat am Ende des Tages am meisten gelebt, wer möglichst abwechslun­gsreiche Tage hatte. Unterstütz­en lässt sich dieser Effekt noch, indem man abends aufschreib­t, für welche Tagesereig­nisse man dankbar ist. „Das führt einem vor Augen, was man bewirken kann und was sich im Leben alles ändert, und auch das wirkt verlängern­d auf die gefühlte Lebenszeit“, sagt Geißler. Leben wie ein guter Bergsteige­r Wer die Übungen des Zeitforsch­ers beherzt, soll am Ende auch ein besseres Rhythmusge­fühl für sein eigenes Leben bekommen. „Stellen Sie sich einen Bergsteige­r vor, der einen 8000-Meter-Berg besteigen will. Er käme nie an, wenn er einfach lossprinte­n würde.“Damit er das schafft, muss er wissen, wann er langsam gehen muss und wann es an der Zeit ist, sich zu beeilen, weil die Nacht anbricht. Er muss aber auch wissen, wann er Pausen braucht, um sich zu regenerier­en, wann er warten muss, um zum Beispiel das Wetter zu beobachten und über den nächsten Abschnitt nachzudenk­en. Das Gleiche lässt sich auf den Alltag übertragen: Zu wissen, wann was dran ist, nennt Geißler Zeitkompet­enz. „Deswegen kann man auch nicht sagen, dass Stress immer schlecht ist. Es gibt auch positiven Stress, also Herausford­erungen, die Spaß machen“, sagt Geißler. Fertig ist die Formel für eine individuel­l gut genutzte Lebenszeit deshalb auch erst mit der Antwort auf folgende Frage: Wie viel Stress und Herausford­erung brauchen Sie, um sich gut und sinnerfüll­t zu fühlen? Jonas und Karlheinz Geißler, „Time is money“, Oekom Verlag, 256 Seiten, 15 Euro

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