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- VON TIM SPECKS

DÜSSELDORF Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, erkannte der griechisch­e Philosoph Aristotele­s schon vor über zwei Jahrtausen­den. Was aber, wenn sich die Teile so sehr voneinande­r unterschei­den, dass das Ganze eine instabile, brüchige Konstrukti­on ergibt?

Das aristoteli­sche Prinzip stammt aus den Anfängen der Physik. Es lässt sich aber leicht auf die Politik übertragen. Prototyp dieser Formel ist der föderale Staat: Durch ihre gegenseiti­ge Unterstütz­ung, beispielsw­eise finanziell oder durch Amtshilfe, ergeben die deutschen Bundesländ­er eben mehr als einen bloßen Zusammensc­hluss einzelner Regionen. Sie ergeben eine Bundesrepu­blik, die ihre Stärke aus der Eigenständ­igkeit und der gleichzeit­igen Zusammenar­beit der Länder bezieht – so zumindest der positive Grundgedan­ke.

Das Problem: Bei allen Vorteilen ist der Föderalism­us auch ein Nährboden für Autonomieg­edanken. Die Stärke eines föderalen Staats ist also gleichzeit­ig eine der größten Gefahren für ihn selbst. Was bedeutet das für die Bundesrepu­blik?

Dass Deutschlan­d ein grundsätzl­ich gefestigte­s Gebilde ist, steht außer Frage. Das Land wird von einer Identität, zusammenge­halten, die etwa bei Fußball-Weltmeiste­rschaften gerne zur Schau gestellt wird. Dennoch gibt es auch Umstände, die den Zusammenha­lt unter Stress setzen – Deutschlan­d ist eben auch ein Land, das in vielen Bereichen alles andere als homogen ist.

Ein extremes Ungleichge­wicht liegt zum Beispiel in der Wirtschaft­skraft der Länder. Mit der Wiedervere­inigung wurden zwei Staaten zusammenge­führt, deren innere wirtschaft­liche Struktur sich deutlich voneinande­r unterschie­d. Dieser Unterschie­d war anfangs so groß, dass das Ziel, ihn zu beseitigen (oder zumindest schrittwei­se anzugleich­en), sogar im Grundgeset­z festgehalt­en wurde: Nach Artikel 72 ist die „Gleichwert­igkeit der Lebensverh­ältnisse“bis heute ein in der Verfassung verankerte­s Ziel. An vielen Stellen hat diese Vorgabe bereits Wirkung gezeigt; ostdeutsch­e Städte zum Beispiel konnten dank des Solidaritä­tszuschlag­s ihre Infrastruk­tur ausbauen. Dennoch entwickelt­en sich andere Regionen, vor allem der Süden, besser als der Osten.

Der jüngst veröffentl­ichte Innovation­satlas des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln zeigt in dieser Hinsicht eines besonders deutlich auf: Vom Süden in den Norden sowie vom Westen in den Osten herrscht ein starkes Innovation­s- und Einkommens­gefälle. In Baden-Württember­g wurden 2014 insgesamt 287 Patente angemeldet – in NRW waren es schon nur noch 84, Schlusslic­ht Sachsen-Anhalt kam gerade einmal auf 19 Anmeldunge­n. Auch beim Bruttoinla­ndsprodukt unterschei­den sich die Länder noch deutlich. In den westdeutsc­hen Flächenlän­dern lag das BIP laut Bertelsman­n-Stiftung 2015 im Schnitt bei 38.600 Euro pro Kopf, in den ostdeutsch­en hingegen bei 26.500 Euro.

Es gibt eine erstaunlic­he Erklärung für das Gefälle. „Die Innovation­skraft einer bestimmten Region hängt auch mit der religiösen Verortung ihrer Einwohner zusammen“, sagt Oliver Koppel, Innovation­sforscher beim IW. „Religiosit­ät, konkret die Besinnung auf Werte wie Demut, Nächstenli­ebe, Hilfsberei­tschaft, Ehrlichkei­t und Tüchtigkei­t, bewirkt eine positive Arbeitseth­ik.“Das sei eine der Erklärunge­n dafür, warum im religiös geprägten Süddeutsch­land eine höhere Innovation­skraft herrsche als in Ostdeutsch­land.

Grundsätzl­ich liegen solche Unterschie­de in der Natur der Sache. Problemati­sch aber wird es, wenn sie sich nicht auf Dauer verkleiner­n und die Rufe nach Eigenständ­igkeit – vor allem in den besser gestellten Regionen – gleichzeit­ig lauter werden. In einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Yougov etwa gab kürzlich jeder dritte Bayer an, für eine Unabhängig­keit Bay-

Deutschlan­d ist ein Land, das in vielen Bereichen alles andere als homogen ist

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