Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Wir sind das Gegenteil der AfD“
Der FDP-Spitzenkandidat über mögliche Regierungsbündnisse nach der Wahl, die Hysterie in der Diesel-Debatte und die Russlandpolitik.
BERLIN Die Sonne scheint in den begrünten Innenhof hinter der FDPParteizentrale. Christian Lindner bestellt sich zum Interview einen Kaffee und eine Cola gleichzeitig – der 38-Jährige steht unter Strom, seit seine große Mission „Wiedereinzug in den Bundestag“sich erfüllen könnte.
In NRW waren Sie gegen eine AmpelKoalition aus SPD, FDP und Grünen, in Mainz haben Sie sie gemacht – was gilt für den Bund?
LINDNER Das gleiche wie vor allen Wahlen: Die Freien Demokraten sind eigenständig. Wir werben für neues Denken und mehr Tatkraft, damit unser Land stark bleibt. Wir wollen eine vernünftige Politik für die Mitte machen, die sonst kaum mehr vorkommt. Nach Wahlen schauen wir, ob und mit wem wir etwas umsetzen können.
Sind Sie von der Ampel genauso weit entfernt wie von einer Jamaika-Koalition mit Union und Grünen?
LINDNER Für beides fehlt mir die Fantasie. Klar ist, die CDU steht uns in der Sache am nächsten. Aber die Distanz ist zur Merkel-CDU in letzter Zeit durch die Euro-Politik, das Flüchtlingschaos und den Bürokratismus gewachsen. Die Union steht für „Weiter so“. Immerhin besser als das „Zurück“von Martin Schulz.
Stünden Sie bereit, wenn Herr Schulz mit Ihnen über eine Ampel reden wollte?
LINDNER Eine theoretische Frage, denn praktisch geht der Regierungsauftrag wohl an Frau Merkel. Das Spannendste an der Wahl ist das Rennen um Platz drei. Da werden mögliche Konstellationen geklärt und da wird die Frage beantwortet, wer die Opposition gegen eine neue Koalition anführen wird. Die große Koalition ist das wahrscheinlichste Modell.
2009 kritisierte die Union die mangelnde Regierungserfahrung der FDP, das dürfte jetzt noch krasser sein.
LINDNER Regierungserfahrung ist oft nur ein Tarnwort dafür, ausgetretene Pfade nicht verlassen zu wollen. Ich sehe es genau anders. Die FDP bringt Praktiker aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in politische Verantwortung. Der Politik tut das gut. Die Liberalen wollen es zu ihrem Markenzeichen machen, frische Köpfe in die Politik zu holen.
Bei Jamaika im Bund hätten Sie wohl Probleme mit den Grünen, wenn Sie wie in NRW die ökologische Energiewende ausbremsen.
LINDNER Jamaika ist vor allem unwahrscheinlich, weil die Grünen in der Flüchtlingspolitik noch im Jahr 2015 stehengeblieben sind und sich beispielsweise für schnellere Abschiebungen der Benennung sicherer Herkunftsländer verweigern. In der Energiepolitik erreichen wir die ökologischen Ziele günstiger, weil wir grüne Subventionen und Planwirtschaft durch die Kreativität von Ingenieuren und Ideenwettbewerb ersetzen wollen.
Wer hat versagt in der Dieselaffäre: der Staat oder die Autokonzerne?
LINDNER Beide. Gerade im Automobilbereich sind Politik und Konzerne so eng verflochten, wie man das sonst nur aus dem Finanzsektor kennt. Wir müssen Staat und Wirtschaft generell entflechten, damit der Staat wieder wirksamer Schiedsrichter sein kann...
Heißt das, Niedersachsen sollte als VW-Anteilseigner aussteigen?
LINDNER Ja, sicher. Aber damit Sie mich richtig verstehen: Ich halte die aktuelle Dieseldebatte für hysterisch. Es war notwendig, dass die Abgasmanipulationen aufgedeckt worden sind. Aber daraus hat sich eine Hexenjagd gegen diese Technologie und die gesamte Autobranche entwickelt.
Übertreiben Sie nicht?
LINDNER Nein. Ich fordere mehr Verhältnismäßigkeit. Wenn die Umweltministerin Hendricks sagt, nur neueste Motoren der Abgasnorm 6 D seien vor Fahrverboten sicher, zeigt das die Hysterie, denn diese Autos sind noch gar nicht im Handel. So macht man Industrien ka- putt. Ich habe den Verdacht, dass die Deutsche Umwelthilfe nicht nur den Gesundheitsschutz im Blick haben könnte, sondern auch harte wirtschaftliche Interessen. Schließlich finden sich unter ihren Sponsoren Autohersteller, die keine Dieseltechnologie besitzen.
Aber viele Dieselfahrzeuge überschreiten auf der Straße nun mal die EU-Grenzwerte für Stickoxid...
LINDNER Nein, es geht um die Luftreinheit in der Innenstadt. Und da gibt es zur Qualitätsverbesserung viele Hebel, die man ziehen kann, um Fahrverbote zu verhindern. Klar ist, die Autohersteller müssen die Fahrzeuge nicht nur mit Software, sondern nötigenfalls auch mit einer Motoren-Umrüstung in den Zu- stand versetzen, den die Kunden geglaubt haben zu kaufen. Der Steuerzahler darf dafür nicht in Anspruch genommen werden. Bekommen eben die Aktionäre weniger Dividende. Wir müssen aber eine Debatte darüber führen, ob die jetzigen EU-Grenzwerte wirklich verhältnismäßig sind.
Heißt das, Berlin soll sich in Brüssel dafür einsetzen, die geltenden AbgasGrenzwerte aufzuweichen?
LINDNER Es geht um die Grenzwerte für die Luft in den Innenstädten. Die ist viel sauberer geworden. Wer im Büro arbeitet, darf dauerhaft sehr viel mehr Stickoxid einatmen, als auf der Straße für einen kurzen Moment erlaubt ist. Das zeigt, dass solche Grenzwerte keine Religion und keine Wahrheit sind, sondern politische Entscheidungen. Mit Medizinern und Ingenieuren sollte daher geklärt werden, ob die Grenzwerte nicht auch langsamer erreicht werden können als sofort.
Hat Sie Gerhard Schröder nach Ihrer Äußerung zur Krim als „dauerhaftes Provisorium“angerufen und gelobt?
LINDNER Nein. An meiner Position halte ich fest. Die Annexion der Krim war ein Völkerrechtsbruch, den wir nicht akzeptieren. Wenn man aber eine Eskalations- und Aufrüstungsspirale mit Russland verhindern will, dann muss man an anderen Stellen den Dialog intensivieren, um die schwierigsten Konflikte später zu lösen. In der Debatte ist viel Heuchelei im Spiel, gerade bei den Grünen. Der EU-Beitrittsprozess mit der Türkei muss beendet werden. Er ist damals aber begonnen worden, obwohl die Türkei Nordzypern völkerrechtswidrig besetzt hat. Der Konflikt wurde eingefroren. Wo war der grüne Aufschrei, als sie in der Regierung waren?
Wollen Sie damit die FDP als liberale AfD aufstellen?
LINDNER Wieso? Mein Vorschlag entspricht der Tradition der deutschen Entspannungspolitik, Härte mit Dialogbereitschaft und Werte mit Realismus zu verbinden. HansDietrich Genscher hat sich schon 2015 so geäußert. Wir sind das Gegenteil der AfD. Die wollen unser Land isolieren. Die FDP sieht Deutschland als Teil des Westens, der transatlantischen Partnerschaft und der EU.
Oder denken Sie an die vielen Russlanddeutschen?
LINDNER Bei aller Dialogbereitschaft muss jeder wissen, dass wir eine Fortsetzung der aggressiven und autoritären Politik aus dem Kreml nicht akzeptieren. Entweder also gibt es eine andere Politik aus Mos- kau, dann sollte man Zug um Zug Sanktionen abbauen. Wenn es aber keine Veränderung nach einer Dialoginitiative gibt, dann muss man wirklich konsequent sein und auch Projekte wie die Pipeline Nord Stream 2 absagen. Das Problem scheint mir, dass die bisherige Russlandpolitik weder wirklich dialogoffen noch wirklich konsequent ist. BIRGIT MARSCHALL UND GREGOR MAYNTZ FÜHRTEN DAS INTERVIEW.