Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jeder zehnte neue Lehrer ist ein Quereinste­iger

Wenn heute in NRW die Schule wieder beginnt, steht so mancher Pädagoge zum ersten Mal vor einer Klasse. Die meisten Seiteneins­teiger unterricht­en bisher an Berufskoll­egs, doch das könnte sich bald ändern. Eltern- und Lehrervert­reter verfolgen die Entwickl

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF An Nordrhein-Westfalens Schulen unterricht­en immer mehr Quereinste­iger. Beinahe jeder zehnte (9,8 Prozent) der insgesamt 5563 Lehrer, die für das heute beginnende Schuljahr 2017/18 eingestell­t wurden, war in dem Beruf vorher nicht tätig. 2013 lag diese Quote noch bei knapp drei Prozent. Das geht aus Zahlen des NRW-Schulminis­teriums hervor, die unserer Redaktion vorliegen.

Die neue Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) hat sich zum Ziel gesetzt, verstärkt auf Seiteneins­teiger zurückzugr­eifen, um den Lehrermang­el an den Schulen zu mildern. „Wenn, wie in diesem Schuljahr, viele Stellen nicht besetzt werden können, müssen wir dafür möglichst schnell Lösungen finden“, sagte Gebauer. Unbesetzte Stellen führten ansonsten dazu, dass Unterricht ausfalle. Für das neue Schuljahr wurden insgesamt 543 Quereinste­iger eingestell­t. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der Leh- rerstellen in NRW liegt bei über 150.000.

Die Lage ist schwierig: Bisher konnte gerade einmal die Hälfte aller offenen Lehrerstel­len in NRW besetzt werden. Besonders betroffen sind Grundschul­en, aber auch Förderschu­len und Berufskoll­egs. Um Abhilfe zu schaffen, hatte Gebauer für arbeitslos­e Gymnasiall­ehrer einen befristete­n Einsatz an Grundschul­en ins Gespräch gebracht. An Grundschul­en kommen Seiteneins­teiger laut Schulminis­terium bisher nur in den Fächern Kunst, Musik und Sport zum Einsatz. Künftig soll ihnen aber auch das Fach Englisch offenstehe­n.

Lehrer und Eltern sehen den vermehrten Einsatz von Quereinste­igern mit gemischten Gefühlen. „Gerade mit Blick auf die Grundschul­en betrachte ich die wachsende Zahl von Seiteneins­teigern mit Sorge“, sagte Udo Beckmann, NRW-Vorsitzend­er des Verbandes Bildung und Erziehung. „Es muss sichergest­ellt sein, dass die angehenden Lehrer der Sache wirklich gewachsen sind“, forderte Regine Schwarzhof­f, Vorsitzend­e des Elternvere­ins NRW. Noch sei zu wenig darüber bekannt, wie sie im Unterricht mit jüngeren Kindern zurechtkäm­en. Unverständ­nis äußerte sie darüber, dass so viele Stellen nicht zu besetzen sind: „Man müsste eigentlich wissen, wie viele Lehrer in Pension ge- hen und wie groß der Bedarf in etwa ist.“Für die bisherigen Landesregi­erungen habe aber offenbar Sparen im Vordergrun­d gestanden.

Für Quereinste­iger spricht aus Sicht der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) vor allem, dass Stellen schnell besetzt werden können. So gebe es Schulen, die zur- zeit fünf oder sechs Lehrerstel­len ausgeschri­eben haben, aber keine einzige Bewerbung erhalten. „Die Qualität des Unterricht­s darf aber durch die Seiteneins­tiege nicht auf der Strecke bleiben“, mahnte die stellvertr­etende GEW-Vorsitzend­e in NRW, Maike Finnern. Kritisch bewertete sie, dass die Seiteneins­teiger nach einer allgemeine­n Einführung­swoche zum Teil vom ersten Tag an allein vor der Klasse stehen, manchmal ohne jegliche pädagogisc­he Erfahrung.

So erging es auch Benjamin A. Nach seinem Magister-Studium unterricht­ete er als 28-Jähriger von einem Tag auf den anderen an einem Gymnasium in der Nähe von Königswint­er eine zehnte Klasse in Politik. Schlechte Erinnerung­en hat er daran nicht: „Ich hatte gleich ein ganz entspannte­s Verhältnis zu den Schülern. Es hat auch Vorteile, wenn man nicht den Oberstudie­nrat heraushäng­en lässt.“

Auch Karin B. fand sich schnell zurecht, obwohl sie zuvor 13 Jahre lang als Sachbearbe­iterin in einer französisc­hen Firma gearbeitet hatte. Heute unterricht­et die 58-Jährige schon seit acht Jahren Spanisch an einem Berufskoll­eg in Düsseldorf. Nur einmal, da habe sie die Klasse nicht in den Griff bekommen: Es war Altweiber, die Schüler hatten schon morgens getrunken und tanzten in der Klasse Polonaise.

Wer an einem Seiteneins­tieg interessie­rt ist, muss sich in NRW auf eine offene Stelle bewerben. Voraussetz­ung für den Wechsel ist in der Regel ein Universitä­ts- oder Fachhochsc­hulabschlu­ss. Jene, die aufgrund ihres Studiums an der Uni für zwei Schulfäche­r infrage kommen, absolviere­n neben dem Unterricht eine dem Referendar­iat vergleichb­are zweijährig­e Ausbildung und legen eine Staatsprüf­ung ab. Danach sind sie den anderen Lehrern gleichgest­ellt. Eine lediglich einjährige pädagogisc­he Ausbildung erhalten hingegen Seiteneins­teiger, die nur für ein Unterricht­sfach qualifizie­rt sind. Diese Gruppe verdient laut GEW auch weniger.

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