Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pauline und ihre blaue Schultüte

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Paulines Schultüte ist blau mit bunten Punkten. In den letzten Wochen im Kindergart­en, als niemand mehr so richtig Lust auf Kindergart­en hatte, jedenfalls Pauline nicht und auch nicht ihre Freunde Franzi, Max, David und Aysegül, da haben sie Schultüten gebastelt. Die von Aysegül ist noch schöner als Paulines, sie ist nämlich gelb mit Schmetterl­ingen. Aysegül ist Paulines aller-allerbeste Freundin, und deshalb findet Pauline es in Ordnung, dass ihre gelbe Schultüte so viel schöner geworden ist. Bei Paulines Tüte sind ein paar Punkte verrutscht, und unten ist sie nicht ganz zu. „Macht nichts“, hat Oma gesagt. „Schultüten sind wie Leute, jede ist ein bisschen anders.“Opa findet das auch: „So eine schöne Tüte. Darf ich die morgen tragen?“

Pauline sagt nein. Es ist ihre Tüte, und die will sie schon selber tragen.

Was genau in der Tüte drin ist, weiß Pauline am nächsten Morgen nicht, denn Mama hat die Tüte oben zugebunden. Aber sie ist schwer! Nur unten, wo die Pappe nicht ganz klebt, sieht Pauline ein weißes Stück Papier.

Sie sind spät dran, denn alle mussten noch ins Bad und frühstücke­n. Dann gibt es noch ein Familienfo­to vor dem Haus. Das macht ihr Nachbar Herr Jansen. „Freust du dich denn auf die Schule?“, fragt er Pauline. Das hört sie in letzter Zeit ständig. Es ist eine komische Frage, denn natürlich freut sie sich auf die Schule. Was sonst? Pauline will endlich rechnen können, auch große Zahlen. Sie will wissen, was hinten auf der Puddingpac­kung steht. „Immer das Gleiche“, sagt Mama, aber Pauline ist sich sicher, dass das nicht stimmt. Sie will auch die Postkarten lesen, die Opa ihr manchmal schickt.

Dann gehen sie los. Pauline kennt den Weg zur Erich-Kästner-Grundschul­e schon lange: Krumme Straße, Hauptstraß­e, Marktplatz, dann ein Stück Richtung Kindergart­en, und dann ab nach rechts. Auf dem Marktplatz ist viel los, richtig viele Familien sind unterwegs, und alle wollen sie zur Schule. Pauline sucht in der bunten Menge nach Gelb, denn das ist Aysegüls Lieblingsf­arbe. Aysegül war den ganzen Sommer über in der Türkei. Sie war so lange weg, dass Pauline es kaum ausgehalte­n hat! Pauline würde jetzt gerne schneller gehen, aber ihre Tüte wird mit jedem Schritt schwerer. Außerdem hat Pauline nagelneue Turnschuhe an.

Als Lehrer braucht man ein dickes Fell. Aber niemand an der Dorfgrunds­chule im niederrhei­nischen Bislich hat ein dickes Fell wie Séamus. Der fünfeinhal­bjährige Labradorrü­de ist Schulhund und so etwas wie der heimliche Star der Schule am Deich. Dass man in der Ortschaft zu pädagogisc­hen Zwecken auf den Hund gekommen ist, geht auf Lehrerin Miriam Brand zurück. Sie hatte die Idee, sie war treibende Lehrkraft. 2012 wurde der Rüde, dessen Name irisch-gälischen Ursprungs ist, im zarten Welpenalte­r von fünf Monaten erstmals als Schulhund eingesetzt. Die Kinder profitiert­en sehr von ihm, sagt Miriam Brand: Sie lernen, „Die dehnen sich noch“, hat die Verkäuferi­n gesagt, und das fand Pauline auch.

Jetzt entdeckt Pauline am Marktbrunn­en eine gelbe Schultüte. „Nimm du mal“, sagt sie und reicht Opa ihre Schultüte. „Mit Vergnügen“, sagt Paulines Opa.

„Aber nur kurz“, sagt Pauline und rennt los. Sie ist fast so schnell wie immer, nur ihre Schuhe drücken jetzt noch etwas mehr. Die meisten Leute hier sind viel größer als sie. Eine Handtasche versperrt ihr den Weg. „Aysegül!“ruft sie. „Hier“, antwortet eine Stimme. Pauline läuft der Stimme nach und findet die gelbe Schmetterl­ingstüte. Dort steht aber nicht ihre Freundin,

sondern ein Mann mit runder Brille und Schnauzbar­t. Der lächelt sie an. „Du bist bestimmt Pauline?“„Ja“, sagt Pauline. „Ich bin Aysegüls Opa.“„Und ich bin Paulines Opa“sagt Paulines Opa, der ganz schön flink sein kann, wenn es drauf ankommt. „Haben Sie aber eine schöne Schultüte.“„Sie ist fast so schön wie Ihre Schultüte“, sagt Aysegüls Opa bescheiden. „Wo ist Aysegül?“, fragt Pauline. „Schon in der Turnhalle. Sie hält dir einen Platz frei“, sagt Aysegüls Opa. „Gibt es in Ihrer Heimat auch Schultüten?“, fragt Paulines Opa. Pauline zerrt an Opas Hand, aber Opa bleibt jetzt lieber stehen. „Leider nein“, sagt Aysegüls Opa. „Bei uns gibt es keine Schultüten.“ „Wie schade“, sagt Paulines Opa. „Sehr schade.“„Ich laufe schon mal vor“, erklärt Pauline. Dann setzt sie sich hin und zieht ihre Schuhe aus. Sie bindet sie an den langen Schnürsenk­eln zusammen und gibt sie ihrem Opa. „Halt mal“, sagt sie. „Ist gut“, sagt Opa. Pauline sprintet los, so leicht und schnell wie nie. Unter ihren Füßen spürt sie die warmen Pflasterst­eine. Am Eingang der Erich-Kästner-Grundschul­e warten Mama und Oma, beide sehen genervt aus. „Wo ist die Körperspra­che von Tieren zu verstehen und die Angst vor ihnen zu verlieren. „Mit Séamus in der Klasse ist es gleich viel ruhiger, weil der Hund ein viel besseres Gehör hat als wir Menschen und die Kinder dafür sensibilis­iert sind.“Der Klassenrau­m müsse gut vorbereite­t sein, wenn Séamus zu Besuch kommt. Die Schüler dürfen keine Schokolade offen auf dem Tisch liegen haben, denn manchmal sei der Hund eben eine Naschkatze. Während des Unterricht­s liegt Séamus oft friedlich zwischen den Schultasch­en und lauscht dem, was Frauchen vorne erzählt. So viel pädagogisc­he Kraft ist nicht jedem Hund gegeben. Spezielle Semi- Opa?“, fragt Mama. „Wo ist deine Schultüte, und wo sind deine Schuhe? „Kommen alle gleich“, sagt Pauline. Dann gehen sie endlich durch das Schultor.

Sie folgen dem Menschenst­rom zur Turnhalle. Aysegül sitzt in der Mitte, sie winkt und lacht und hat Pauline einen Platz freigehalt­en. Das ist gut, denn es ist sehr voll. Die großen Fenster sind weit offen, und auf den Fensterbän­ken sitzen Eltern und Großeltern, Geschwiste­r, Onkel und Tanten.

Ganz vorne in der Turnhalle tanzen riesig große, bunte Buchstaben hin und her. Es klingelt, und jetzt reihen sie sich auf zu einem Satz. WILLKOMMEN IN DER SCHULE. „Sieht super aus“, sagt Pauline und drückt Aysegüls Hand. „Supersuper“, sagt Aysegül. „Was steht denn da?“, fragt Pauline. „Irgend was mit Schule“, sagt Aysegül, aber das war jetzt geraten.

Später stehen sie nebeneinan­der auf der Treppe. Es gibt noch mehr Fotos. Und noch viel später, also viele Jahre nach diesem ersten Schultag in der Erich-Kästner-Grundschul­e, an einem Tag, an dem Pauline, sagen wir mal, ihr Zimmer aufräumt (was nicht zu oft vorkommen wird) – an diesem Tag findet sie vielleicht ein altes Foto.

Zwei beste Freundinne­n stehen auf der Schultrepp­e und blinzeln in die Sonne. Eine hat ein gelbes Spitzenkle­id an. Die andere ist barfuß.

Obwohl es ihr erster Schultag ist, hat keine von ihnen eine Tüte im Arm.

Ihre Schultüten spazieren zur selben Zeit auf dem Schulhof herum. Was die beiden Opas miteinande­r zu reden hatten, weiß Pauline bis heute nicht. Aber sie weiß noch sehr genau, was in ihrer Tüte war: Gummibärch­en, Mäusespeck und Schokorieg­el, das volle Programm. Und ganz unten, damit nichts rausfallen konnte aus der Tüte, lag ein Zettel. Liebe Pauline, ich wünsche dir alles Gute in der Schule. Mach einfach weiter, wenn dir mal ein Punkt verrutscht. Alles Liebe, Dein Opa. PS: Deine Schultüte ist wunderschö­n. Den Zettel hat Pauline heute noch. Und sie kann ihn lesen. Jederzeit. INFO Tanya Lieske ist Journalist­in, Autorin und Moderatori­n. Sie schreibt für Kinder und für Erwachsene und lebt in Düsseldorf. www. tanyaliesk­e.de nare zur „Hundegestü­tzten Pädagogik in der Schule“hat Brand mit Séamus gesucht, sich kontinuier­lich weitergebi­ldet. Ein- bis zweimal in der Woche kommt das Tier zum Einsatz. Stressredu­zierende Wirkung soll es auf die Schüler haben, die in ihrem dörflichen Umfeld noch mit Tieren groß werden. Schafe gibt es in Bislich, viele Kühe und seit einigen Jahren ist sogar der Storch wieder heimisch. Séamus aber bleibt der Star. Und so war im vergangene­n Jahr die Freude groß, dass der Labrador nach einem Jahr Elternzeit seines Frauchens wieder an der Schule war. Auch Séamus hat heute seinen ersten Schultag. Sebastian Peters

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Die zehnjährig­e Hannah aus Düsseldorf hat das Mädchen Pauline gemalt.
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