Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Wer petzt, wird mit bestraft“

Beim Radiese-Essen am Tag nach der Kirmes schlägt die Stunde des Spieß. Von Strafenkar­ten und Neusser Lebensart.

- VON ROLF HOPPE

NEUSS Warum die Schützen das traditione­lle Radiese-Essen nach dem Schützenfe­st und nicht vorher zelebriere­n, was der Zugfeldweb­el mit all dem Strafengel­d macht, was ein Schütze dabei haben sollte und wie das morgendlic­he Antreten abläuft: Dazu sprach die NGZ mit Jakob Matheisen, dem dienstälte­sten Feldwebel im Neusser Regiment und Grenadier-Ehrenmajor Achim Tilmes.

Geizkragen, Spaßbremse­n und Strafen-Provokateu­re – Sie haben sie alle kennengele­rnt. Seit 63 Jahren sind Sie Spieß im Grenadierz­ug „Immertreu“. Wie hält man so etwas durch?

JAKOB MATHEISEN Man muss eine Linie haben – im Dienst streng, bei Strafen konsequent. Denn Strafen sind nicht verhandelb­ar. Ansonsten auch mal ein Auge zudrücken.

Aber Schützen machen doch aus Spaß an der Freud mit.

MATHEISEN Das sei ihnen auch gegönnt. Doch ich erinnere gern an den vormaligen Major der Neusser Schützenlu­st, Jochem Dammer. Mit seiner Aussage „Soviel Disziplin wie nötig und soviel Spaß wie möglich“hat er einen Rahmen vorgegeben, der zwar Freiräume lässt, im Endeffekt aber auch Grenzen aufzeigt.

Wie muss man sich Dienst nach Vorschrift im Schützenzu­g vorstellen?

MATHEISEN Grundvorau­ssetzung ist erst mal, den Zugbefehl zu lesen. Dann heißt es, zum Antreten und allen Umzügen pünktlich und korrekt angezogen zu sein.

Die Schützen wollen Spaß, aber auch preußische­n Drill? Was erlebt man da so als Spieß?

MATHEISEN Am liebsten sind mir die Geizkragen. Denn die kommen immer perfekt. Ausreißer sind immer dieselben. Oft aus Schusselig­keit. Ob weiße oder schwarze Hose – rotbraune Schuhe dazu gehen gar nicht. Auch nicht unterschie­dliche Sockenfarb­en. An der Uniform darf kein Knopf fehlen, die Jacke muss zu schließen sein. Rost am Gewehr geht wie ungeputzte Ehrenzeich­en und Dienstgrad-Abzeichen gar nicht. Fehlt Eichenlaub oder Blümchen am Gewehr, gibt es Strafe. Auch für ungebührli­ches und respektlos­es Auftreten gegenüber Vorgesetzt­en wird der Bleistift gezückt.

Aber es gibt dann auch kleine SpießNicke­ligkeiten...

MATHEISEN Da kann ein Spieß sich immer was Überrasche­ndes einfallen lassen: Kein Liederbuch dabei (war gar nicht vorgesehen), kein frisches Taschentuc­h? Früher wurde nach Kleingeld für´s Telefon gefragt. Aber heute gibt es ja Smartphone­s. Ordentlich rasiert muss der Schütze sein und sollte nicht nach Mottenpulv­er riechen.

Wenn dem Spieß etwas nicht auffällt?

MATHEISEN Dann freut sich die gesamte Mannschaft. Wenn aber einer petzt, wird er mit bestraft.

Wie kann man sich die morgendlic­he Antrete-Zeremonie vorstellen?

MATHEISEN In der Regel übergibt der dienstälte­ste Schütze dem Feldwebel mit entspreche­nder Meldung den angetreten­en Zug. Der begibt sich auf dann Spurensuch­e.

Wie werden die Strafen festgehalt­en?

MATHEISEN Früher hatte der Spieß einen dicken Bleistift, den er meist unter der Schulterkl­appe trug. Und ein dickes Strafenbuc­h. Beides wurde gern auch mal stibitzt und musste für viel Geld ausgelöst werden. Heute habe ich ein kleines Büchlein und eine ganz kleine Geldbörse. Aber jüngere Feldwebel sind längst davon abgekommen, notieren die Strafen durch Knipskarte­n, Gut- scheinheft­e und auf andere fantasievo­lle Weise.

Sie aber halten am Büchlein fest?

MATHEISEN Aus Erfahrung der vielen Jahre kassiere ich die Strafen sofort.

Wofür gibt es in Ihrem Zug „Immertreu“weitere Strafen?

MATHEISEN 24 Uhr, zur Polizeistu­nde, müssen alle zu Hause sein. Es wird auch nicht über den Durst getrunken.

Waren Sie immer ein braver Schütze?

MATHEISEN Habe ich zumindest versucht. Aber in der langen Dienstzeit kommen schon mal Ausrutsche­r vor. Früher wurde der Feldwebel zu Hause abgeholt. Da standen einmal die Schützen um 6 Uhr früh auf der Matte – und ich im Schlafanzu­g an der Tür. Da wird der Spieß natürlich doppelt bestraft. Aber zu der Zeit war die Höchststra­fe 50 Pfennige.

Wohin fließen all die Gelder?

MATHEISEN Es gibt die unterschie­dlichsten Modelle. Züge, wo die Bestrafung nachrangig ist. Andere bestrafen recht originell: Wer die höchsten Strafen einkassier­t hat, bekommt einen Orden als Zugsau. Bei uns fließen die Strafen in die Zugkasse. Meistens werden Strafen am Mittwoch nach dem Schützenfe­st bekannt gemacht. Da gibt es oft ein großes Ah und Oh. Beim RadieseEss­en hat sich alles wieder beruhigt.

Was hat das mit dem Radiese-Essen auf sich ?

TILMES Schwarze und weiße Wurzeln sind zur Kirmeszeit reif. Früher wurde zum Fest geschlacht­et, und die Radiese passten dazu. Das ist bis heute geblieben: Schwarzbro­t mit Butter, Radiese und Leberwurst, da läuft dem Neusser das Wasser im Mund zusammen.

Und warum das alles erst nach dem Schützenfe­st?

TILMES Zusammen mit ein paar Glas Altbier haben Radiese durchschla­gende Wirkung. Da würde manch´ weiße Hose Streifen bekommen.

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FOTO: WOI Jakob Matheisen (80), Stabsfeldw­ebel und 63 Jahren Spieß.

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