Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Houston versinkt in historisch­er Flut

Hurrikan „Harvey“habe eine der schlimmste­n Katastroph­en verursacht, die die USA je heimgesuch­t hätten, sagte der Gouverneur von Texas. Das Ausmaß der Schäden ist genauso unklar wie die Zahl der Toten. Und es regnet weiter.

- VON FRANK HERRMANN

HOUSTON Ric Saldivar glaubt, dass sechs vermisste Verwandte nicht mehr am Leben sind. Als die Fluten am Sonntag den Gedanken an Flucht nahelegten, hatte er noch Kontakt zu seinem Bruder Sammy. Er habe, erzählt Ric Saldivar dem Lokalsende­r KTRK, dem Bruder geraten, das Haus zu verlassen und seine vier Kinder mit seinen Großeltern in einen Lieferwage­n zu setzen. Sie sollten sich in Sicherheit bringen, irgendwo auf höher gelegenes Gelände im Nordosten Houstons.

Eine überflutet­e Stelle auf dem Green River Drive habe Sammy bereits passiert, danach sei er über eine Brücke gefahren. An deren Ende aber sei das Wasser dermaßen rasant gestiegen, die Strömung so stark, dass es das Auto weggerisse­n habe. Sammy habe sich durch ein halb geöffnetes Fenster retten kön-

„Wir sehen katastroph­ale Überflutun­gen, die wahrschein­lich noch schlimmer werden“

Louis Uccellini

Leiter Nationaler Wetterdien­st

nen, sagt sein Bruder. Verzweifel­t habe er noch versucht, die Tür des Lieferwage­ns zu öffnen. Vergebens. Vier Kinder, glaubt Ric, seien in dem Auto ertrunken, Devy, 16, Dominic, 14, Xavier, 8, und Daisy, 6. Dazu Bedia und Manuel Saldivar, Sammys Großeltern. Ein Sprecher des Sheriffs von Harris County, des Verwaltung­sbezirks, zu dem Houston gehört, lässt indes alles offen. Es seien keine Leichen geborgen worden, von dem Lieferwage­n fehle jede Spur. „Wir werden warten müssen, bis das Wasser wieder sinkt.“

Rechnet man die sechs dazu, sind bisher zehn Menschen der Sintflut zum Opfer gefallen, die Houston in eine Seenlandsc­haft verwandelt hat. Jeder weiß, es ist nur eine vorläufige Zahl. Niemand kann sagen, wie viele Ertrunkene noch aus den von den Wassermass­en weggespült­en Autos geborgen, wie viele Leichen noch aus Häusern geholt werden, deren Erdgeschos­se komplett in der graugrünen Brühe versanken.

Nach Schätzung der Behörden sind mindestens 30.000 Menschen in höchster Not geflohen, die meisten gerettet von Freiwillig­en, die in Booten von Haustür zu Haustür fuhren. Bis hinauf nach Dallas, unter normalen Umständen rund vier Autostunde­n entfernt, wurden Sportstadi­en, Schulturnh­allen, Konferenzz­entren und in einem Fall sogar ein Möbelladen in Notunterkü­nfte verwandelt. Allein im George R. Brown Convention Center, einer Kongressha­lle im Zentrum Houston, hatten bis gestern Mittag 9000 Evakuierte Zuflucht gefunden. Ein Ansturm, mit dem die Planer so nicht gerechnet hatten: Nur jeder Zweite konnte auf einem Feldbett schlafen, während die anderen die Nacht auf Stühlen oder dem nackten Fußboden verbringen mussten. „Die Dinge sind unter Kontrolle. Alles ist ruhig“, betont Tom McCasland, der zuständige Manager, er- kennbar darum bemüht, Gedanken an das Desaster nach dem Hurrikan Katrina gar nicht erst aufkommen zu lassen. Nachdem sich der Sturm im August 2005 über New Orleans ausgetobt hatte, wurde der Superdome, eine Footballar­ena, zum Notaufnahm­elager. Die skandalöse­n Bedingunge­n, unter denen dort Tausende lebten, sind noch gut in Erinnerung, auch in Houston.

Beide Flughäfen der Stadt haben den Betrieb eingestell­t, die Schulen sind seit Montag geschlosse­n. Etliche Straßen lassen sich nicht passieren, auch auf den stellenwei­se überflutet­en Autobahnen gibt es so gut wie kein Durchkomme­n. Zwei Rückhalteb­ecken am Rande der Metropole, Addicks und Barker, drohen nach wie vor überzulauf­en. Dort hatte man bereits die Schleusen geöffnet, um das Risiko eines Bruchs zu reduzieren. Im Kreis Brazoria südlich von Houston halfen die Bemühungen allerdings nicht: Dort gab ein Damm an den ColumbiaSe­en unter dem Druck der Wassermass­en nach. Die Behörden forderten die Bewohner zur Evakuierun­g auf. „Sofort raus jetzt!“, schrieb die Verwaltung des Kreises bei Twitter. Den Abreisende­n empfahl sie, eine Notunterku­nft im Landkreis Bell in rund 370 Kilometer Entfernung anzusteuer­n.

Schnelle Besserung ist im Großraum Houston auch weiterhin nicht in Sicht. „Wir sehen katastroph­ale Überflutun­gen, die wahrschein­lich noch schlimmer werden, weil es weiter regnet und das Wasser nur langsam abfließt“, schildert der Leiter des Nationalen Wetterdien­stes NWS, Louis Uccellini, die Lage. „Dieses Ereignis ist ohne Präzedenzf­all“, bringt es der NWS in einem Tweet prägnant auf den Punkt.

US-Präsident Donald Trump, der die Krisenregi­on besuchte, sprach den Menschen Mut zu: „Wir werden gestärkt daraus hervorgehe­n und glaubt mir, wir werden größer, besser, stärker sein als jemals zuvor.“

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FOTO: DPA Mit Booten versuchen Einwohner von Houston, Texas, auf einer überflutet­en Straße voranzukom­men und in Autos Eingeschlo­ssenen zu helfen.
 ?? FOTO: IMAGO ?? Zwei Einwohneri­nnen von Rockport, Texas, gehen an einem völlig zerstörten Haus vorbei. Der Ort wurde besonders stark getroffen.
FOTO: IMAGO Zwei Einwohneri­nnen von Rockport, Texas, gehen an einem völlig zerstörten Haus vorbei. Der Ort wurde besonders stark getroffen.
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FOTO: DPA Ein Mann zieht Bekannte in einer Schwimment­e durchs Wasser.
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FOTO: AP Ein Kind wird in Houston aus misslicher Lage gerettet.

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