Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Streiten wir über deutsche Kultur!
DÜSSELDORF Erst hetzt ein Spitzenkandidat der AfD mit bedenklichem Vokabular gegen die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz und will sie lehren, was deutsch ist. Dann geraten Aussagen der SPD-Politikerin in den Blick, in denen sie behauptet, sobald man versuche, den Begriff der Leitkultur inhaltlich zu füllen, gleite die Debatte ins Lächerliche und die Vorschläge verkämen zum „Klischee des Deutschseins“. Pünktlich zur Bundestagswahl kehrt also ein historisch aufgeladenes, an die Identität jedes Einzelnen wie der Gesellschaft rührendes Thema zurück: Was ist deutsch? Gibt es typisch deutsch? Darf man überhaupt nach kollektiver Identität fragen, ohne die Polarisierung im Land voranzutreiben? Natürlich ist schon die Debatte selbst „typisch deutsch“und offenbart, – nein, nicht, wie verkrampft die Deutschen sind, sondern wie sensibel dieses Thema ist, wie leicht es zum Spielball werden kann für Menschen, die eigentlich über Macht reden wollen.
Papst Franziskus ist ein Mann des Volkes. Schon bei seinem ersten Auftritt war das deutlich geworden. Als er kurz nach seiner Wahl zum Kirchenoberhaupt am 13. März 2013 die Benediktionsloggia betrat und den Menschenmassen auf dem Petersplatz zuwinkte, tat er das in aller Bescheidenheit und vor allem: ohne den pelzbesetzten Prunkumhang. Jorge Mario Bergoglio ist der erste Argentinier in diesem Amt und der erste Jesuit. Bescheiden, demütig und volksnah. Jetzt wurde bekannt, dass Franziskus vor rund 40 Jahren Rat bei einer Therapeutin gesucht hat – was ihn ihn nur noch menschlicher macht. Er habe spi-
Auf die Missbrauchsgefahr zielte Özoguz wohl in ihrem Zeitungsbeitrag, der im Mai erschien, kurz nachdem Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) seine Thesen zur Leitkultur veröffentlicht hatte. Allerdings ist es bedenklich, wenn eine Staatsministerin Deutschsein auf Sprache reduziert und behauptet, „eine spezifisch deutsche Kultur“sei, „jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“So leicht sollte man es sich nicht machen.
Natürlich ist Leitkultur ein anstrengender Begriff. Wer leitet, steht ja schnell im Ruch, sich über andere zu erheben; und so wird das Wort oft von jenen benutzt, die ein ominöses Abstammungs-Deutschsein als Ausschlusskriterium verwenden, als Werkzeug der Spaltung und idiotensichere Methode, durch Herabsetzung anderer ein WirGefühl zu erzeugen. Vielleicht sollte man den Begriff also lieber meiden.
Doch nach der deutschen Seele zu forschen, würdigt niemanden herab. Erhellende Bücher sind jüngst dazu erschienen von der Philosophin Thea Dorn etwa oder dem Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer. Wirklich spannend wird es aber, wenn es darum geht, Elemente kultureller Praxis zu benennen, die so wichtig sind, dass sie auch die Zukunft unseres Miteinanders leiten sollen. Dann landet man bald bei Fragen wie der Toleranz gegenüber Burkas im öffentlichen Raum, und es scheiden sich die Geister. Doch genau diese Debatten dienen der Verständigung darüber, wer wir sind und sein wollen.
Natürlich ist Deutschsein also mehr als Sprache. Aber was? Man wird sich darüber auch in Schlagwörtern austauschen müssen. Goethe, Luther, Bach gehören dazu, auch im „Fack ju Göhte“Zeitalter, und genauso ein ins Exil getriebener Dichter wie Heinrich Heine. Es gehört Alltägliches dazu wie das Butterbrot und die Freude an schnellen Autos, das Brauchtum genauso wie deutschtürkischer Rap oder die Begeis- terung für die Fußball-Nationalmannschaft. Die Erfahrungen mit der NaziDiktatur, die Schuld am Zweiten Weltkrieg und die Shoa genauso wie die Freude über die deutsche Einheit. Und natürlich ist Deutschland ein christlich geprägtes Land, das heute auch von Muslimen geformt wird.
All das ergibt eine spezifische Mischung, ein von tatsächlichen Ereignissen angeregtes, subjektiv empfundenes Deutschsein. Ein kulturelles Klima, in dem Kinder aufwachsen und das Menschen empfinden, wenn sie aus anderen Regionen der Welt zu uns kommen.
Wie verändert sich diese Prägung und was davon sollten wir bewahren? Gerade dass wir diese Fragen immer wieder stellen, führt vor Augen, dass Deutschsein nichts Fixes ist. Keine Eigenschaft, die man hat oder nicht, die einen dazugehören lässt oder nicht, sondern etwas, das dem Wandel unterliegt, das Bürger durch ihr Denken und Handeln und ihre Bezugnahme auf Geschichte in jedem historischen Moment neu erzeugen. Herfried Münkler hat in seinem bedeutenden Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“nachvollzogen, wie die Deutschen sich immer wieder neu auf mythische Erzählungen und historische Ereignisse besonnen haben, um sich ein Bild von sich selbst zu machen. Dabei in Ausgrenzung und Nationalismus zu verfallen, ist immer eine Gefahr. Doch man entgeht ihr nicht, indem man die Frage nicht mehr stellt.
Deutschland ist schon immer ein Einwandererland gewesen, das durch den Einfluss anderer Kulturen geformt wurde. Inzwischen ist diese Erkenntnis Teil des Deutschseins. Zuwanderung verändert Kulturen. Sie fordert Debatten heraus, etwa über die Rolle des Islams und das bröckelnde Selbstverständnis von Christen. Solche Debatten schreiben unser aller Deutschsein fort, zwingen jeden Einzelnen, sich seine Identität bewusst zu machen. Allerdings muss man aushalten, dass Wan- del tradierte Überzeugungen in Frage stellt, an Identitätsgefühlen rüttelt, Unsicherheit hervorruft. Darauf durch mentale Abschottung und verbale Ausgrenzung zu reagieren, ist ein Zeichen innerer Schwäche
Gerade weil es so viele neue Einflüsse gibt, ist es spannend, über alte Klischees und neue Formen des Deutschseins zu sprechen. Nur wenn solche Debatten kein Tabu sind, kann eine Gesellschaft ein kulturelles Selbstbewusstsein entwickeln, das sich aus positiven Überzeugungen speist, zu seiner historischen Schuld steht, versucht daraus zu lernen. Wer seine Kultur aus Angst vor Ausgrenzungsmechanismen für „nicht identifizierbar“erklärt, hat sich aus der Gegenwart verabschiedet.
Debatten, die deutsche Identität berühren, dienen der Verständigung darüber, wer wir sind und sein wollen
ein Elektromobil im Vatikan. Der 1936 als Sohn italienischer Einwanderer geborene Bergolio wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Sein Vater war Bahnangestellter. Er selbst ging er auf eine technische Schule, die er als ChemieTechniker absolvierte. Mit 21 Jahren ging er ins Priester-Seminar. Er sehe sich „nicht als etwas Besonderes“, sagte der Papst einmal; er habe auch persönliche Schwächen und „dunkle Momente“. Ob er damit die therapeutischen Treffen meinte? Für die Frage, warum Menschen leiden müssen, hatte Papst Franziskus jedenfalls keine Erklärung. Nur so viel sagte er: „Da muss irgendetwas sein, das einen Sinn hat.“Julia Rathcke