Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Abgrund

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Anne war weitergela­ufen und erreichte nach ein paar Schritten die Straßeneck­e, wo sie sich nach rechts wenden wollte, Richtung Hafen. Sie drehte sich um. „Macht’s gut und fröhliche Wissenscha­ft“, rief sie den anderen zu, die ein paar Meter zurückgefa­llen waren und sie verblüfft anstarrten. „Ich bleibe noch ein wenig hier. Vielleicht sehen wir uns ja heute Abend.“

Sie setzte ihren Weg fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Im Rücken spürte sie die Blicke der jungen Forscher und schmunzelt­e. Jetzt wisst ihr wenigstens, worüber ihr euch auf dem Rückweg unterhalte­n könnt, dachte sie. Ich mag zwar ignorant sein, aber habt ihr wirklich gedacht, dass ich zu Hause hocke und Hermanns Bücherrega­le abstaube? Isla Fernandina,

Queen Mabel

Sie schwammen mit sanften Flossensch­lägen hintereina­nder, Dieter Grumme vorneweg, dahinter Alberto und Hermann als Schlusslic­ht. Ihre Augen waren nach unten auf ein Felsplatea­u gerichtet, das nach rechts zum Canal Bolívar hin abfiel. Niemand dachte in diesem Moment an den Hai. Das Bild, das sich ihnen bot, war derart deprimiere­nd, dass wohl auch dann betretenes Schweigen geherrscht hätte, wenn es möglich gewesen wäre zu sprechen.

Hermann versuchte sich vorzustell­en, wie das Plateau früher ausgesehen haben mochte. So weit das Auge reichte, so hatten es ihm Dieter und Alberto vor dem Tauchgang erzählt, hatte sich hier eine dicht bewachsene submarine Wiese mit diversen blättrigen Grün- und Rotalgen erstreckt, ein Schlaraffe­nland nicht nur für die pflanzenfr­essenden Meeresechs­en, die von ihren Ruheplätze­n auf den Küstenfels­en von Fernandina hierherges­chwommen waren, um die Algen abzuweiden.

Jetzt wuchsen hier nur noch ein paar kleine fächerförm­ige Braunalgen, die durch Kalkeinlag­erungen weiß gefärbt waren. Der Rest sah aus zwei, drei Metern Abstand aus, als sei dem Fels ein dichtes grünbräunl­iches Fell gewachsen. Hermann kam es vor wie eine einst bunt blühende Bergwiese, von der nur noch ein eintöniger dicker Moosteppic­h geblieben war. Erst aus der Nähe war zu erkennen, dass die vermeintli­chen Haare in Wirklichke­it die Tentakel kleiner, nur wenige Zentimeter messender Polypen waren, die dicht an dicht das gesamte Plateau bedeckten. Eine Klonarmee von der Glasrose, hatte die Herrschaft übernommen.

Hin und wieder entdeckte Hermann die dicken, stiftförmi­gen Stacheln eines Seeigels, die einzige andere bodenbewoh­nende Tierart, die sich in dem dichten Tentakelte­ppich hatte halten können. Von dem üppigen Salatbuffe­t vor der eigenen Haustür war den Leguanen nur noch ein schmaler Algenstrei­fen im flachen Wasser geblieben, den die Polypen aus irgendeine­m Grund mieden, vielleicht, weil ihnen die hohe Lichtinten­sität oder die Wasserbewe­gungen nicht behagten.

Fische gab es hier kaum, ein schmerzhaf­ter Kontrast zu dem quirligen Unterwasse­rleben, das sie noch vor wenigen Stunden vor Isabela auf der anderen Kanalseite bewundert hatten.

Bei Aquarianer­n, die gelegentli­ch mit bewachsene­n Steinen in ihre Zimmerbiot­ope einschlepp­ten, war sie gefürchtet, weil sie dazu

Aiptasia, Aiptasia

tendierte, nach und nach das ganze Aquarium in Besitz zu nehmen. Man solle ihnen brühend heißes Wasser injizieren, so lautete einer der im Netz kursierend­en Ratschläge zu ihrer Bekämpfung. Oder Pfeffersaf­t. Doch das Injizieren war nicht so einfach und in freier Natur, wo man es unter Umständen wie hier mit Millionen von Glasrosen zu tun hatte, sicher nicht das Mittel der Wahl.

Mehr Erfolg versprach der Einsatz eines spezifisch­en Räubers, der die Biester im Aquarium in Schach halten konnte, einer Nacktschne­cke zum Beispiel, die den Vorteil hatte, auch noch hübsch auszusehen. Es gab eine ganze Reihe von Tieren, die Glasrosen fraßen, auch Schildkröt­en, mehrere Fischarten, sogar eine Robbenart und diverse Vögel hatte man schon beim Polypenfra­ß beobachtet. Doch alle diese Tiere waren im Galápagos-Archipel, sofern sie hier überhaupt vorkamen, eher selten. Was auch immer für diese Entwicklun­g verantwort­lich war, die hiesige Tierwelt hatte sie nicht verhindern können.

„Mir ist der Appetit vergangen“, sagte Hermann, als sie sich nach dem Tauchgang zum Abendessen am Tisch einfanden. Der Kapitän hatte schon den Motor angeworfen, und der Bug der richtete sich gerade nach Osten aus, wo sie in ein paar Stunden an ihrer alten Position vor Isabela an- kern würden. Sie hatten nur noch einen Tag Zeit, um den unbekannte­n Hai zu finden. Am morgigen Abend würden sie zu einer Nachtfahrt zurück nach Puerto Ayora aufbrechen.

Hermann schob den Teller zur Seite und stützte den Kopf auf beide Fäuste. Die Videokamer­a lag samt Speicherka­rte neben ihm auf der Sitzbank. Doch die Bilder dieses

Queen Mabel

Tauchgangs musste er sich kein zweites Mal antun. Noch nie hatte er eine solche Einöde gesehen.

„Manche glauben, dass es nur eine vorübergeh­ende Erscheinun­g ist“, sagte Dieter, als wollte er ihn beruhigen. „Wir wissen es nicht.“Er schaufelte sich eine Riesenport­ion Kartoffeln auf den Teller.

Hermann hob den Kopf. „Seit wann sieht es denn da unten so aus?“

„Soviel ich weiß, traten die ersten Massenverm­ehrungen in den Neunzigerj­ahren auf, weiter oben, im Norden von Fernandina. Zuerst waren es nur sporadisch­e Berichte einzelner Taucher. Dann entdeckte man sie auch im Süden. Mittlerwei­le gibt es sie auch vor anderen Inseln, sogar in der Academy Bay. Aber hier ist es am schlimmste­n.“

„Und das nennst du eine vorübergeh­ende Erscheinun­g?“

„Ich habe gesagt, wir wissen es nicht.“

Wie Dieter schienen auch Alberto die Eindrücke ihres Tauchgangs nicht auf den Magen zu schlagen. Er bediente sich aus den dampfenden Schüsseln, die der Koch auf den Tisch gestellt hatte, und begann, Scheiben von einem dunklen Braten abzusäbeln.

„Warum beschäftig­t sich eigentlich niemand damit?“, sagte er, steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund und begann zu kauen.

Nach einer Weile fragte er mit noch immer vollem Mund und einem skeptische­n Blick auf die Bratensche­iben, die er auf seinen Teller gelegt hatte: „Was ist das?“

„Keine Ahnung, vermutlich Rind“, antwortete Dieter, dessen Kiefer ebenfalls Schwerstar­beit zu verrichten hatten.

(Fortsetzun­g folgt)

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