Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Schweizer Streiter für die UN

Der Soziologe Jean Ziegler plädiert trotz aller Schwächen für den Ausbau der UN.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Die sanfte Gewalt der Vernunft ist es, woran Jean Ziegler glaubt, ein Glaube, den er von Bertolt Brecht übernimmt. Es sind die Vereinten Nationen (UN), die diese Gewalt der Vernunft verkörpern. Dabei sieht er es als nicht so einfach an, die Vorzüge ihrer Prinzipien zu beschreibe­n. Er tut es und zeigt gleichzeit­ig ihre Fehler und ihr Versagen auf. Ihre geistig-politische­n Väter waren 1941 Roosevelt und Churchill, sie projektier­ten die UN als Teil einer neuen friedliche­n Weltordnun­g. Aber sie legten die Grundlagen für zwei ihrer prinzipiel­len Schwächen. Roosevelt postuliert­e die gleichbere­chtigte Souveränit­ät aller Staaten, Churchill hielt es für möglich, dass die Staaten mehrheitli­ch in der UNGeneralv­ersammlung gefährlich­e Beschlüsse treffen könnten, und bestand auf dem Vetorecht der Siegermäch­te des Zweiten Weltkriegs.

Die gleichbere­chtigte Souveränit­ät aber hat sich als Schimäre erwiesen. Die USA als mächtigste­r Staat der Welt nutzen ihre Souveränit­ät in einem imperialen Verständni­s, das den Prinzipien der UN widerspric­ht. In Kissinger, von ihm verabscheu­t, sieht Ziegler den Protagonis­ten dieser Position. Die schwachen Staaten sind hilflos großen Mächten und auch dem Einfluss der „Klasse der Reichen“ausgeliefe­rt.

Die dritte prinzipiel­le Schwäche ist das einseitige Verständni­s der Menschenre­chte, konzentrie­rt auf Freiheit der Versammlun­g, der Meinung, des Gewissens, der Religion. Wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Rechte kommen zu kurz. In der „Erklärung von Wien“wurden diese Menschenre­chte 1993 verbunden. Die USA blieben der Abstimmung fern und weigern sich bis heute, sozioökono­mische Menschenre­chte anzuerkenn­en.

Ziegler, früherer Schweizer sozialdemo­kratischer Parlamenta­rier, analysiert diese Fehler als ehemaliger Akteur im UN-System. Er tut das anschaulic­h, immer wertend aus seinem Engagement für die Armen des Südens heraus. Weiten Raum nimmt die radikal gewechselt­e Einstellun­g Israels zu ihm ein. Als er in einem Konflikt mit Schweizer Banken für die Rechte von Juden auf ihre im Zuge der Flucht aus NaziDeutsc­hland entstanden Schweizer Bankguthab­en kämpft, fand er hohe Anerkennun­g. Er wurde nach Israel eingeladen, aber angefeinde­t, als er Israel für den Nahrungsma­ngel von Palästinen­sern verantwort­lich macht.

Bei allen traurigen Erfahrunge­n sieht er Fortschrit­te im System der UN. Es ist der Internatio­nale Strafgeric­htshof, auch wenn bislang nur Afrikaner angeklagt wurden. Und es ist das Recht auf humanitäre Interventi­on gegen Regierunge­n, die die Menschenre­chte ihrer eigenen Bürger missachten.

Das Buch des 82-jährigen Ziegler ist auch ein autobiogra­fischer Rückblick, bilanziere­nd, was er erreicht hat und was über seinen Tod hinaus bleibt. Bleiben wird für ihn die Gewalt der Vernunft. Sie wird getragen von einer „planetaren Zivilgesel­lschaft“. Er unterschei­det sie von vielen Nicht-Regierungs­organisati­onen (NGOs), die alimentier­te Meinungsag­enten ihrer Regierunge­n seien und die ihn oft diffamiert hätten. Die planetaris­che Zivilgesel­lschaft indes ist eine „rätselhaft­e Bruderscha­ft der Nacht, gerüstet mit den Waffen einer wiederaufe­rstandenen UN, sie bildet den sichtbaren Horizont einer Welt, die endlich menschlich wird“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany