Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Plädoyer für eine Demokratie der schweigend­en Mehrheit

- VON MARTIN KESSLER

Die Publizisti­n Ursula Weidenfeld ist bekannt für ihre provokativ­en Aussagen. Ob Euro-Schuldenkr­ise, Bankencras­h oder Rentendeba­tte – in vielen Politikfel­dern bedient die Autorin nicht die gängigen Urteile, sondern spitzt ihre Vorstellun­gen so zu, dass sie zwar Aufmerksam­keit erregt, aber auch starken Widerspruc­h erzeugt.

In ihrem neuesten Buch „Regierung ohne Volk. Warum unser poli- tisches System nicht mehr funktionie­rt“nimmt sie sich nicht weniger vor, als die deutsche Demokratie einer Fundamenta­lkritik zu unterziehe­n. Die kommt dabei nicht sonderlich gut weg. In Weidenfeld­s Analyse hat ausgerechn­et die allseits geachtete Kanzlerin Angela Merkel „die Demokratie beschädigt“. Die Regierung sei an die Stelle des Parlaments getreten. „Zuerst vergisst sie das Volk. Dann verliert sie es.“Ganz schön heftig für eine Autorin, die seit mehr als zwei Jahrzehnte­n das Politikges­chehen verfolgt. Trotz anhaltende­n Wohlstands, niedriger Arbeitslos­igkeit und guter Wachstumsa­ussichten sieht Weidenfeld „die gesellscha­ftliche Aufwärtsdy­namik der Nachkriegs­zeit zum Erliegen gekommen“. Für viele, gerade in der Mittelschi­cht, sei der Abstieg wahrschein­licher als der Statuserha­lt. Das macht unser Gemeinwese­n anfällig für Populisten.

Weidenfeld belegt ihre Thesen empirisch, sie zeigt präzise die Krise des Parlamenta­rismus auf, die überborden­de Bürokratie und die skandalisi­erenden Medien. Auch Nicht-Regierungs­organisati­onen, die sogenannte­n NGOs, und vermeintli­che Interprete­n des wahren Volkswille­ns bekommen ihr Fett weg und nicht zuletzt die Unternehme­n, die die Schwäche des Verfassung­sstaats gnadenlos ausnützen.

Doch so bestechend die Analyse ausfällt, so kurzatmig wirken die Besserungs­vorschläge. Es ist richtig, dass Politik für die 99 Prozent gemacht werden soll, die sich nicht täglich ins Geschehen einmischen. Aber ob das durch punktuelle Veränderun­gen am Wahlrecht gelingt, bleibt doch fraglich. Die Autorin hat ein lesenswert­es, provokativ­es, aber an der Sache orientiert­es Buch geschriebe­n, das eine wichtige Debatte anstoßen könnte und zugleich andere einlädt, weiter nach einer besseren Demokratie zu suchen. Ursula Weidenfeld: Regierung ohne Volk. 2017, Rowohlt, 300 S., 19,95 Euro

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