Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wenn aus Blagen Plagen werden
DÜSSELDORF Vielleicht liegt es an der Mühe, die das Leben mit all dem Leistungsdruck und der Selbstverantwortung heute bereitet. Vielleicht möchten viele Menschen darum den Alltag ihrer Kinder müheloser gestalten, es ihnen leichter machen. Und so tragen sie den Ranzen, kaufen ihnen das neueste Handy, verschonen sie mit Haushaltspflichten und begleiten sie irgendwann an die Universität, damit das mit dem ersten Stundenplan auch wirklich klappt.
Verwöhnen ist zu einem Massenphänomen geworden – eine Erziehungsfalle, in die immer mehr Erwachsene tappen. Schon immer wollten Eltern, dass ihre Kinder es einmal besser haben. Das ist ein Motor für Entwicklung, ein Ansporn für die Generationen.
Doch denken heute viele, dass dieses Bessergehen sich durch mehr Konsum und Bequemlichkeit auszeichnet. Und so erfüllen sie ihren Kindern jeden Wunsch, befreien sie von allen Aufgaben, die Unmut provozieren könnten, überhäufen sie mit Lob und versuchen ihnen alles zu bieten von der Fremdsprachenfrühförderung bis zum Erlebnisurlaub. Doch ziehen sie so junge Menschen heran, die alles nach dem Lustprinzip entscheiden. Die nicht lernen, mit Rückschlägen oder lästigen Pflichten umzugehen, die sich über nichts mehr freuen, wenig achtsam mit Menschen und Dingen umgehen, die unzufrieden sind. Obwohl sie doch alles haben.
Jeder kennt diese kleinen Prinzessinnen und Prinzen, die ihre Eltern fest im Griff haben, nicht mal mehr quengeln müssen, um ihren Willen durchzusetzen – die Andeutung eines Schmollmunds genügt. Wenn diese Kinder älter werden, wachsen ihre Ansprüche, aber nicht ihre Freude am Leben. Und obwohl im Grunde jeder weiß, welche Folgen das Verwöhnen hat, scheint es vielen Erwachsenen schwerzufallen, ihre Kinder nicht zu verziehen, ihnen Ver- antwortung zu übertragen und beim Einkauf auch mal Nein zu sagen.
Doch Kindern Verzicht und mehr Eigenverantwortung zuzumuten, kostet Kraft und verlangt Konfliktbereitschaft. Außerdem müssen Eltern in Kauf nehmen, dass sie Dinge verweigern, die in anderen Familien bereitwillig erlaubt werden. Und in einer Konkurrenzgesellschaft erzeugt der ständige Vergleich zusätzlichen Druck. Eltern müssen also eine Haltung zu all den Konsumangeboten der Gegenwart entwickeln – und sie bestimmt vermitteln. Sonst sind endlose Diskussionen die Folge, die das Familienklima vergiften.
Oft ist es auch gar nicht so einfach zu entscheiden, was Verwöhnen ist, was notwendige Unterstützung. Etwa bei den Hausaufgaben: Der Leistungsdruck in den Schulen wächst, die Anforderungen steigen, da fühlen sich viele Eltern genötigt, daheim täglich die Schularbeiten zu überwachen, den Kindern beizuspringen, damit die nur ja mithalten können.
„Zu viel Fürsorge nimmt den Kindern die Chance, eigene Erfahrungen zu machen und zu lernen, auch mit Misserfolgen klarzukommen“, sagt dagegen Jürg Frick, Professor für Psychologie in Zürich. Tägliche Hausaufgabenbetreuung etwa führe nur dazu, dass das Kind irgendwann bockig wird. Bei der Frage nach dem rechten Maß verweist Frick auf einen alten Begriff des Pädagogen Pestalozzi: sehende Liebe. „Man ist in gutem Kontakt zu seinem Kind, sieht, was es braucht“, erklärt Frick. „Wer sein Kind dagegen blind liebt, tut alles für das Kind, ohne es im Blick zu haben, und es wird von diesem Übermaß erdrückt.“
Erziehungsfragen unterliegen weniger rigiden Vorstellungen als noch vor wenigen Jahren. Das hat allerdings zu vielen Unsicherheiten geführt. Eltern müssen individuell entscheiden, mit wie viel Helikopter-Fürsorge, wie viel Tigermama-Härte sie erziehen wollen. Experten raten, Kinder alles, was sie schon selbst tun können, auch selbst Jürg Frick machen zu lassen. Klingt banal, ist aber nicht mehr selbstverständlich. Und sie empfehlen, Kinder dafür nicht mit Lob zu überhäufen, denn verwöhnen kann man auch verbal. Vielmehr sollten sie nur für besondere Leistungen gelobt werden oder wenn sie sich in etwas merklich verbessert haben.
Womöglich ist es aber gar nicht die Unsicherheit in konkreten Erziehungsfragen, die zum Verwöhnen so vieler Kinder führt. Eine seltsame Verkehrung hat stattgefunden: Heute wollen nicht mehr Kinder ihren Eltern gefallen, Eltern buhlen um die Gunst ihrer Kinder. Oft stehen Mama und Papa dabei noch in Konkurrenz zueinander. Das mag damit zu tun haben, dass viele Menschen im Berufsleben ständig bewertet werden. Dabei zählen auch die Soft Skills, die menschlichen Qualitäten. Sie sollen Teamfähigkeit beweisen, einen guten Umgangsstil pflegen, im Urteil der Kollegen gut abschneiden. Daheim setzt sich dieses Denken fort – und dort bewerten die Kinder. Sie werden verwöhnt, weil die Erwachsenen gemocht werden wollen.
Natürlich hat das wenig mit Liebe, viel mit Manipulation zu tun. Aber auch nach außen spielen falsche Liebesbekundungen eine Rolle. Wer mithalten will im heimlichen Wettstreit der perfekten Familien, versucht dem Nachwuchs ein möglichst behütetes, anregendes Leben zu bieten und demonstriert das nach außen. Da stören Konflikte, die sich ergeben, wenn Eltern Grenzen setzen, etwas nicht ermöglichen oder Unbequemes fordern. Frick drückt es so aus: „Eltern glauben, indem sie alles für ihr Kind tun, zeigten sie, wie gern sie es haben.“Die Werbung macht vor, wie es geht: Gute Väter und Mütter kutschieren ihre Kleinen in bulligen Luxusautos durch die Gegend, verwöhnen sie mit Leckereien. Idyllen als Ideale. Dabei kann es für Kinder hilfreicher sein, wenn die Eltern bewusst einen anderen Kurs fahren. Sie lernen dann, dass es unterschiedliche Wertesysteme gibt. Und dass Erwachsene darüber nachdenken, für welches sie sich entscheiden. Verwöhnen vermeiden ist anstrengend – und das Beste, was man seinem Kind bieten kann.
„Zu viel Fürsorge nimmt Kindern die Chance zu lernen, mit Misserfolgen klarzukommen“ Psychologie-Professor