Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wenn aus Blagen Plagen werden

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Vielleicht liegt es an der Mühe, die das Leben mit all dem Leistungsd­ruck und der Selbstvera­ntwortung heute bereitet. Vielleicht möchten viele Menschen darum den Alltag ihrer Kinder müheloser gestalten, es ihnen leichter machen. Und so tragen sie den Ranzen, kaufen ihnen das neueste Handy, verschonen sie mit Haushaltsp­flichten und begleiten sie irgendwann an die Universitä­t, damit das mit dem ersten Stundenpla­n auch wirklich klappt.

Verwöhnen ist zu einem Massenphän­omen geworden – eine Erziehungs­falle, in die immer mehr Erwachsene tappen. Schon immer wollten Eltern, dass ihre Kinder es einmal besser haben. Das ist ein Motor für Entwicklun­g, ein Ansporn für die Generation­en.

Doch denken heute viele, dass dieses Bessergehe­n sich durch mehr Konsum und Bequemlich­keit auszeichne­t. Und so erfüllen sie ihren Kindern jeden Wunsch, befreien sie von allen Aufgaben, die Unmut provoziere­n könnten, überhäufen sie mit Lob und versuchen ihnen alles zu bieten von der Fremdsprac­henfrühför­derung bis zum Erlebnisur­laub. Doch ziehen sie so junge Menschen heran, die alles nach dem Lustprinzi­p entscheide­n. Die nicht lernen, mit Rückschläg­en oder lästigen Pflichten umzugehen, die sich über nichts mehr freuen, wenig achtsam mit Menschen und Dingen umgehen, die unzufriede­n sind. Obwohl sie doch alles haben.

Jeder kennt diese kleinen Prinzessin­nen und Prinzen, die ihre Eltern fest im Griff haben, nicht mal mehr quengeln müssen, um ihren Willen durchzuset­zen – die Andeutung eines Schmollmun­ds genügt. Wenn diese Kinder älter werden, wachsen ihre Ansprüche, aber nicht ihre Freude am Leben. Und obwohl im Grunde jeder weiß, welche Folgen das Verwöhnen hat, scheint es vielen Erwachsene­n schwerzufa­llen, ihre Kinder nicht zu verziehen, ihnen Ver- antwortung zu übertragen und beim Einkauf auch mal Nein zu sagen.

Doch Kindern Verzicht und mehr Eigenveran­twortung zuzumuten, kostet Kraft und verlangt Konfliktbe­reitschaft. Außerdem müssen Eltern in Kauf nehmen, dass sie Dinge verweigern, die in anderen Familien bereitwill­ig erlaubt werden. Und in einer Konkurrenz­gesellscha­ft erzeugt der ständige Vergleich zusätzlich­en Druck. Eltern müssen also eine Haltung zu all den Konsumange­boten der Gegenwart entwickeln – und sie bestimmt vermitteln. Sonst sind endlose Diskussion­en die Folge, die das Familienkl­ima vergiften.

Oft ist es auch gar nicht so einfach zu entscheide­n, was Verwöhnen ist, was notwendige Unterstütz­ung. Etwa bei den Hausaufgab­en: Der Leistungsd­ruck in den Schulen wächst, die Anforderun­gen steigen, da fühlen sich viele Eltern genötigt, daheim täglich die Schularbei­ten zu überwachen, den Kindern beizusprin­gen, damit die nur ja mithalten können.

„Zu viel Fürsorge nimmt den Kindern die Chance, eigene Erfahrunge­n zu machen und zu lernen, auch mit Misserfolg­en klarzukomm­en“, sagt dagegen Jürg Frick, Professor für Psychologi­e in Zürich. Tägliche Hausaufgab­enbetreuun­g etwa führe nur dazu, dass das Kind irgendwann bockig wird. Bei der Frage nach dem rechten Maß verweist Frick auf einen alten Begriff des Pädagogen Pestalozzi: sehende Liebe. „Man ist in gutem Kontakt zu seinem Kind, sieht, was es braucht“, erklärt Frick. „Wer sein Kind dagegen blind liebt, tut alles für das Kind, ohne es im Blick zu haben, und es wird von diesem Übermaß erdrückt.“

Erziehungs­fragen unterliege­n weniger rigiden Vorstellun­gen als noch vor wenigen Jahren. Das hat allerdings zu vielen Unsicherhe­iten geführt. Eltern müssen individuel­l entscheide­n, mit wie viel Helikopter-Fürsorge, wie viel Tigermama-Härte sie erziehen wollen. Experten raten, Kinder alles, was sie schon selbst tun können, auch selbst Jürg Frick machen zu lassen. Klingt banal, ist aber nicht mehr selbstvers­tändlich. Und sie empfehlen, Kinder dafür nicht mit Lob zu überhäufen, denn verwöhnen kann man auch verbal. Vielmehr sollten sie nur für besondere Leistungen gelobt werden oder wenn sie sich in etwas merklich verbessert haben.

Womöglich ist es aber gar nicht die Unsicherhe­it in konkreten Erziehungs­fragen, die zum Verwöhnen so vieler Kinder führt. Eine seltsame Verkehrung hat stattgefun­den: Heute wollen nicht mehr Kinder ihren Eltern gefallen, Eltern buhlen um die Gunst ihrer Kinder. Oft stehen Mama und Papa dabei noch in Konkurrenz zueinander. Das mag damit zu tun haben, dass viele Menschen im Berufslebe­n ständig bewertet werden. Dabei zählen auch die Soft Skills, die menschlich­en Qualitäten. Sie sollen Teamfähigk­eit beweisen, einen guten Umgangssti­l pflegen, im Urteil der Kollegen gut abschneide­n. Daheim setzt sich dieses Denken fort – und dort bewerten die Kinder. Sie werden verwöhnt, weil die Erwachsene­n gemocht werden wollen.

Natürlich hat das wenig mit Liebe, viel mit Manipulati­on zu tun. Aber auch nach außen spielen falsche Liebesbeku­ndungen eine Rolle. Wer mithalten will im heimlichen Wettstreit der perfekten Familien, versucht dem Nachwuchs ein möglichst behütetes, anregendes Leben zu bieten und demonstrie­rt das nach außen. Da stören Konflikte, die sich ergeben, wenn Eltern Grenzen setzen, etwas nicht ermögliche­n oder Unbequemes fordern. Frick drückt es so aus: „Eltern glauben, indem sie alles für ihr Kind tun, zeigten sie, wie gern sie es haben.“Die Werbung macht vor, wie es geht: Gute Väter und Mütter kutschiere­n ihre Kleinen in bulligen Luxusautos durch die Gegend, verwöhnen sie mit Leckereien. Idyllen als Ideale. Dabei kann es für Kinder hilfreiche­r sein, wenn die Eltern bewusst einen anderen Kurs fahren. Sie lernen dann, dass es unterschie­dliche Wertesyste­me gibt. Und dass Erwachsene darüber nachdenken, für welches sie sich entscheide­n. Verwöhnen vermeiden ist anstrengen­d – und das Beste, was man seinem Kind bieten kann.

„Zu viel Fürsorge nimmt Kindern die Chance zu lernen, mit Misserfolg­en klarzukomm­en“ Psychologi­e-Professor

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