Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Auch ohne Merkel keine große Koalition“

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BERLIN Carsten Schneider erlebte eine turbulente Woche. Nach der historisch­en Pleite für die SPD darf sich der 41-Jährige nun als Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer der neuen Fraktion beweisen – ein Karrieresp­rung. Zum ersten Zeitungsin­terview nach seiner Wahl empfängt der Thüringer in seinem Büro mit Blick auf Spree und Reichstag.

Herr Schneider, es gibt eine aufgeregte Debatte um das „In die Fresse“-Zitat von SPD-Fraktionsc­hefin Andrea Nahles. Wie bewerten Sie das?

SCHNEIDER Ich war dabei, als Andrea Nahles das in der Fraktion gesagt hat. Es war klar als ein Spaß erkennbar, den sie zuvor gegenüber einem CSU-Ministerko­llegen in ihrer letzten Kabinettss­itzung gemacht hat. Damit wollte sie die Opposition­srolle der SPD zum Ausdruck bringen.

Würde es dem Parlament guttun, wenn es auch manchmal sprachlich ein bisschen derber zuginge?

SCHNEIDER Ich bin ja nun schon seit 1998 im Bundestag. Die Debattenku­ltur der vergangene­n vier Jahre war die langweilig­ste. Das lag sicher an der großen Koalition, aber eben auch an der Opposition. Sie war schwach und hat sich zu wenig Gehör verschafft. Beides hat sicher mit dafür gesorgt, dass die AfD so groß geworden ist. Viele Menschen fühlten sich offenbar weder von der Regierung noch von der Opposition vertreten. Das muss uns zu denken geben. Wir dürfen keine zu verkopfte Sprache benutzen, sondern müssen klar und verständli­ch sprechen.

Auf dem Weg zur Neuaufstel­lung der SPD-Fraktion gab es einen öffentlich­en Schlagabta­usch der Flügel, Sie haben sich als neuer Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer durchgeset­zt. Jetzt scheint die Geschlosse­nheit der SPD Vergangenh­eit zu sein.

SCHNEIDER Die SPD war im Wahlkampf so geschlosse­n wie noch nie. Nicht über Personen, aber über Inhalte sollte öffentlich durchaus gestritten werden dürfen. Es geht darum, Stimmungen der Menschen aufzunehme­n und zu artikulier­en. Wir Sozialdemo­kraten müssen dafür offen sein und darauf aufbauend unsere Angebote machen, wie wir das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben der Menschen spürbar verbessern.

Aber es ging ja jetzt um Posten.

SCHNEIDER Wir haben doch alle bis Sonntag Wahlkampf gemacht. Wenn Montag, Dienstag die alten und neuen Abgeordnet­en nach Berlin kommen, ist es normal, dass vorliegend­e Personalvo­rschläge nach so einem Wahlergebn­is nicht gleich geschluckt werden. Das hätte nicht öffentlich stattfinde­n müssen. Aber am Ende gab es einen gemeinsame­n Vorschlag von Andrea Nahles und Martin Schulz, den ich gern angenommen habe. Ich freue mich auf die neue Aufgabe.

Soll Martin Schulz nach dem Parteitag im Dezember Parteichef bleiben?

SCHNEIDER Unbedingt! Ich habe im Wahlkampf keinen einzigen Sozialdemo­kraten getroffen, der sagt, Martin Schulz hätte einen schlechten Job gemacht. Im Gegenteil. Martin Schulz hat gekämpft und gerade bei Veranstalt­ungen sehr viel Zulauf bekommen. Die Probleme, die mit seiner Kandidatur zusammenhi­ngen, kamen daher, dass er zu spät nominiert wurde und zu wenig Vorbereitu­ngszeit hatte.

Sie mahnen klare Sprache an. Beschreibe­n Sie doch mal Ihren Job ohne den Begriff Parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer.

SCHNEIDER Ich bin der neue Fraktionso­rganisator, hinter Andrea Nahles, die zweite Angriffsli­nie gegenüber der Regierung. Ich schaue, dass die 153 Abgeordnet­en gut zusammenar­beiten und die Fraktion stär- ken. Gleichzeit­ig müssen die Abgeordnet­en selbstbewu­sster, schneller und eigenständ­iger in ihrer Arbeit werden. Dieses Tagesgesch­äft zu koordinier­en, betrachte ich als meine Aufgabe.

Sie stehen für Verjüngung und eine Stärkung des Ostens in der SPD. Warum ist Ihre Herkunft so wichtig?

SCHNEIDER Wir Sozialdemo­kraten sind, das hat Martin Schulz immer wiederholt, das Bollwerk der Demo- kratie – und waren das immer. Im Osten liegt die Verteidigu­ng der Demokratie aber am Boden. Was ich in den vergangene­n zwei Jahren in meiner Heimat an Hass und Angriffen erlebt habe, zeigt eine erschrecke­nde Verrohung. Der Osten ist da leider Vorläufer einer Entwicklun­g, die auch im Westen ankommen wird. Davon bin ich überzeugt. Um das als Volksparte­i zu bekämpfen, brauchen wir in der SPD mehr Menschen, die sich im Osten auskennen.

Im Bundestag werden Sie sich gleichzeit­ig von der Regierung, der AfD und den Linken abgrenzen müssen. Mit welchen Positionen soll das gelingen?

SCHNEIDER Die radikale AfD droht auch die Linke zu radikalisi­eren. Sahra Wagenknech­t will mit denen ja sogar zusammenar­beiten. Wir als SPD müssen die seriöse Alternativ­e zur instabilen Regierung sein. Wir werden nie mit der AfD kooperiere­n. Und wir werden unsere Redezeit nicht damit verplemper­n, uns an denen abzuarbeit­en. Es sei denn, es fallen rassistisc­he und unpassende Äußerungen. Dann werden sie auf unseren erbitterte­n Widerstand treffen.

Inwiefern wird ein Jamaika-Bündnis instabil sein?

SCHNEIDER Es sind keine natürliche­n Verbündete­n. Die Kanzlerin lebt mittlerwei­le in einer anderen Welt. Anders sind die Wahrnehmun­gsstörunge­n über das eigene Ergebnis nicht zu erklären. Angela Merkel geht dem Ende ihrer Amtszeit entgegen. Das größte Risiko für Jamaika sind die ungelösten Konflikte zwischen CSU und CDU. Ich finde es unglaublic­h, dass die jetzt erst interne Sondierung­en brauchen, um eine Regierung bilden zu können. Dabei sind sie doch mit einem gemeinsame­n Wahlprogra­mm angetreten. Die Wähler müssen sich getäuscht fühlen. Aber ich gehe fest davon aus, dass Grüne und FDP sich letztlich mit der Union einigen und zumindest auf Zeit eine Regierung stellen werden.

Sollte dieses Bündnis aus Union, FDP und Grünen aber nicht zustande kommen, gibt es entweder Neuwahlen oder doch die große Koalition. Richtig?

SCHNEIDER Falsch, es wird keine große Koalition geben. Martin Schulz hat das sehr bestimmt ausgeschlo­ssen.

Auch nicht, wenn die Bundeskanz­lerin vorher zurücktret­en würde?

SCHNEIDER Auch dann nicht.

Aber Sie trauen sich nicht, von Neuwahlen zu sprechen.

SCHNEIDER Doch! Wenn es CDU, CSU, FDP und Grüne nicht schaffen, eine Regierung zu bilden, tragen sie dafür die Verantwort­ung. JAN DREBES FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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