Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nahles hat dem Volk aufs Maul geschaut

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So ein typisches Politik-Gespräch beim Friseur: über dies und das im Allgemeine­n wie auch im Besonderen. Dann aber meint der Friseur: Die AfD fände er ganz gut. Das klingt erst einmal unwahrsche­inlich. Mein Friseur ist nämlich Marokkaner und nicht der erste Ansprechpa­rtner der Partei. Schließlic­h sagt er: Die reden wenigstens, was Sache ist. Was Sache ist – eigentlich komisch, dass das ein besonderer Ausweis an Qualität sein soll, wo es doch um nichts anderes gehen sollte in einem Amt, bei dem gute Kommunikat­ion die halbe Mie-

Fast alle meckern jetzt über die Verrohung der Politiker-Sprache. Doch wünschen wir wirklich die sprachlich­e Kulisse?

te ist und eigentlich auch Auftrag sein sollte. Und dann kommen mir die Worte der Kanzlerin wieder in den Sinn, die zum Abschluss des TVWahlaben­ds bekundete: In der Ruhe liegt die Kraft. So kommt man zu Andrea Nahles, die im politische­n Niemandsla­nd zwischen der Frustratio­n einer historisch­en Niederlage und der Euphorie ihrer Wahl zur Fraktionsc­hefin etwas übermotivi­ert bekannte, der Union künftig etwas „in die Fresse“zu geben. Die Erregung danach war groß. Selbst Öffentlich­keitsarbei­ter, die kraftvoll auszuteile­n wissen, zeigten sich be- troffen: „Im Wettbewerb um das niedrigste Niveau will die SPD offenbar mitkämpfen“, twitterte Kabarettis­t Dieter Nuhr. Stimmt ja alles. Und wer über die Verrohung der Sprache räsoniert, ist auf der sicheren Seite. Darum hat sich jeder Zweite auf diesem Feld jetzt auch betätigt. Natürlich lässt die krude Wortwahl Respekt vermissen. Wahrschein­lich stimmt es auch, dass die Schnelligk­eit unserer Kommunikat­ion in Zeiten von Twitter dazu verführt, Aufmerksam­keit vor allem im Skandalmod­us zu erzielen. Man kann sich besser ausdrücken als Nahles. Viel gewählter und respektvol­ler – aber eben auch viel langweilig­er. Wir alle wissen, dass hinter geschlosse­nen Türen ohnehin eine andere Sprache gewählt wird. Wollen wir wirklich die Kulisse, lieben wir den schönen Schein einer Zivilisier­theit, die im echten Kampf um Macht und Einfluss als Erstes den Bach runtergeht? Martin Luther, der es mochte, dem Volk aufs Maul zu schauen, hätte an Nahles seine helle Freude gehabt – obwohl sie Katholikin ist. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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