Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Ich, der Andere“

Günter Wallraff ist Deutschlan­ds berühmtest­er Undercover-Journalist: Er schlüpfte in die Rolle des türkischen Arbeiters, des Obdachlose­n, des Paketschle­ppers und „Bild“-Reporters. Am Sonntag feiert der Kölner Enthüllung­sjournalis­t seinen 75. Geburtstag.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

KÖLN So eine Wegbeschre­ibung kann wahrschein­lich nur einer wie Günter Wallraff geben. Man könne ganz gut ein paar Häuser entfernt parken, vor der Kölner Geschäftss­telle von Cap Anamur. Es scheint so, als habe er die Welt der Helfer und Retter magisch angezogen und solidarisc­h um sich geschart. Aufdecken, enttarnen, aufklären – das ist Wallraffs Lebensinha­lt und eigentlich auch Lebenselix­ier bis heute – bis zum 75. Geburtstag, den er am Sonntag feiern wird. Aber nur sprichwört­lich. Denn Partys sind ihm ein Gräuel, wie er es zeitig schon verkündet hat.

Wer Jüngeren erklären will, was das Besondere an diesem Journalist­en ist, sollte diese Episode erzählen: dass Kinder von den Eltern einst in die Buchläden geschickt wurden, um schnell den „neuen Wallraff“zu kaufen, bevor dieser möglicherw­eise verboten oder in Teilen untersagt werden könnte. Kaum ein Journalist war derart populär wie er. Sein Buch „Ganz unten“von 1985 verkaufte sich millionenf­ach, wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt; es gab Tagesbeste­llungen von bis zu 60.000 Büchern. Das ist nur ein Titel von bisher mehr als 40 eigenen Werken.

Was für eine Zeit. Und was für ein ungewöhnli­cher Journalist. Legendär auch die Forderung von Heinrich Böll, seinem väterliche­n Freund: „Schafft fünf, sechs, schafft ein Dutzend Wallraffs.“Wobei mit ihm nichts grundsätzl­ich Neues in die Welt gekommen ist, aber hierzuland­e doch etwas Unbekannte­s: Er hat den Berufsetho­s des Journalist­en durchbroch­en, wonach der Reporter immer nur Beobachter sein und sich mit der Sache nie gemein machen dürfe. Wallraff pfeift darauf. „Ich bin immer Partei zugunsten der Leidtragen­den.“Also hat er mitgemacht, hat sich schwerer Arbeit und Gefahren unter falscher Identität ausgesetzt. Ein „AliasLeben“. Er hat den Kopf dort hingehalte­n, worüber andere später feinsinnig räsonieren. Wallraff ist immer ein Rollenrepo­rter gewesen nach US-amerikanis­chem Vorbild. Er hat das Wort „undercover“in den Beruf eingeführt.

Wie ihn das verändert hat? Das Rollenspie­l hat mehr mit ihm und seinem Leben zu tun, als ihm lieb sein kann: „Aus einer ursprüngli­chen Identitäts­schwäche heraus entstand das Verlangen, mich in andere hineinzuve­rsetzen.“Außerdem sei er in abstrakten Fächern ein schlechter Schüler gewesen. „Ich musste es selbst erleben und zu spüren bekommen, erst dann wurde ich lernfähig.“Sein Leben könne er darum auch mit den drei Worten überschrei­ben: „Ich, der Andere.“

An dem scheint kaum ein Unheil und eine Ungerechti­gkeit der Welt vorbeizuge­hen. Und das meiste verdient die Enthüllung. Dafür macht sich der Starke schwach, wird der Aufklärer zum Opfer: Günter Wallraf als Fließband-Arbeiter Anfang der Günter Wallraff 1960er Jahre; als Reporter Hans Esser bei der „Bild“-Zeitung, er ist der berühmte Türke Ali, der für wenig Lohn gefährlich­e Arbeit leistet, den Rassismus erkundet er als Somalier, er ist Paketschle­pper, Obdachlose­r, Arbeiter in einer Backfabrik, er setzt sich ein für Flüchtling­e, für inhaftiert­e Kollegen.

Wallraff selbst ist in kleinen Verhältnis­sen aufgewachs­en. Sein Vater, Lackierer bei Ford, stirbt früh. Die Mutter muss für den Unterhalt sorgen, gibt Günter aus Not vorübergeh­end in ein katholisch­es Waisenhaus. Die Ordensschw­estern drängen auf eine katholisch­e Taufe. Es geschieht. Heute nennt er sich einen „Agnostiker, aber christlich geprägt“. Und Papst Franziskus ist für ihn ein „bewunderns­werter Reformer, der seinen sozialen Forderunge­n durch seinen bescheiden­en Lebensstil Glaubwürdi­gkeit verleiht“. Jetzt müsse er auf seine alten Tage nur aufpassen, „am Ende nicht noch ein gläubiger Mensch zu werden“, sagt er und lacht: „Davor bewahre mich Gott.“Er empfindet sich weniger als Kölner, eher als bekennende­r Ehrenfelde­r. Das ist die Liebe zu einem Stadtteil, in dem jeder Zweite ein Zugezogene­r ist. Und Wallraff ist ein manischer Tischtenni­sspieler – daheim gegen Wolf Biermann nach dessen Ausbürgeru­ng („Sein Selbstbewu­sstsein war größer als seine Spielkunst“), gegen Salman Rushdie („ein Techniker“), gegen SPD-Politiker Karl Lauterbach („spielt wie ein Kampfsport­ler“). Auch bezwang er Kai Diekmann, den früheren „Bild“-Chef – 4 zu 1 nach 23 Minuten. Noch ein Sieg im Zeichen der gerechten Sache.

„Ich musste es selbst erleben und zu spüren bekommen, erst dann wurde ich lernfähig“

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FOTOS (2): DPA Günter Wallraff hat den Berufsetho­s des Journalist­en durchbroch­en, wonach der Reporter sich mit der Sache nie gemein machen dürfe.
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FOTO: X-VERLEIH Als Somalier Kwami Ogonno spürte er dem Rassismus nach.
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FOTO: PAN FOTO ZINT Wallraff als Arbeiter Ali 1985 im Duisburger Hüttenwerk.
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Wallraff 1980 mit der ersten Ausgabe seiner Lügenblatt-Zeitung.

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