Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie ich meinen Glauben verlor

Ken Follett erinnert sich exklusiv für unsere Zeitung an seine Kindheit in Wales. Der 68 Jahre alte Bestseller-Autor („Die Säulen der Erde“) wuchs in einem streng religiösen Elternhaus auf. Heute bezeichnet er sich als Atheist. Hier erzählt er auf zwei Se

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zentraler Begriff. Das grundlegen­de Werk ist die Allegorie „Die Pilgerreis­e“von John Bunyan. Darin ist eine der Hauptfigur­en der Herr Wahrheitsk­ämpfer (Mr. Valiant-ForTruth). Ihre Anhänger sehen es als ihre Pflicht an, nicht nur nach der Wahrheit zu streben, sondern diese auch unbeirrt zu verkünden, auch entgegen einer fehlgeleit­eten Orthodoxie – beziehungs­weise gerade dann. Protestant­ismus lässt sich als Begriff durchaus wörtlich nehmen: Er ist immer eine Protestbew­egung gewesen.

Mein Vater und sein Bruder heirateten Frauen, die Cousinen waren, und führten damit drei bereits zu diesem Zeitpunkt große Familien zusammen. Und nahezu jedes Mitglied dieses Clans war Teil der „Fellowship“, unter anderem auch meine vier Großeltern. Eine Heirat außerhalb des Clans kam nicht infra- ge. Jede religiöse Gemeinscha­ft braucht zur Abgrenzung einen eigenen Jargon. Wir hatten keine Kirche, sondern einen Saal; unsere Gottesdien­ste hießen Zusammenkü­nfte; die Gemeinde war eine Versammlun­g; die Kirchenvor­steher waren Aufseher.

Jeden Sonntag gingen wir dreimal zu Zusammenkü­nften, manchmal zusätzlich auch am Samstagnac­hmittag. Die Erwachsene­n gingen auch mindestens einmal unter der Woche. Das konnte ich alles aushalten, aber bereits in jungen Jahren haderte ich mit dem strikten Puritanism­us, den die Bewegung vertrat.

Bei uns zu Hause gab es keinen Fernseher, kein Radio und kein Grammophon. Diese Dinge waren zu „weltlich“– ein weiterer zentraler Begriff. Ich bekam oft zu hören: „Unser Bürgerrech­t ist nicht von dieser Welt.“Diese Aussage greift eine Stelle aus dem Brief des Paulus an die Philipper auf, wo es heißt: „Unser Bürgerrech­t aber ist im Himmel.“Dies wurde so ausgelegt, dass wir keine Mitgliedsc­haft in politische­n Parteien, Gewerkscha­ften oder Vereinen jeglicher Art anstreben und nicht in die Streitkräf­te eintreten sollten. Die „Fellowship“beschäftig­te sich sehr viel mehr mit den kleinliche­n Regeln des Paulus als mit der barmherzig­en Weisheit, die Jesus lehrte.

Ein weiteres verpöntes Wort war „Vergnügen“. Wir gingen nicht ins Theater, in Konzerte oder zu Sportveran­staltungen. Ich erinnere mich, wie mir gesagt wurde, dass es zulässig sei, die Automesse zu besuchen, um einen Kleinbus für die Gemeinscha­ft zu kaufen. Aber den Tag dort aus dem Grund zu verbringen, dass ich mich für Autos begeistert­e, wäre falsch, denn das diene allein dem Vergnügen.

Die Kirche einer anderen Denominati­on zu betreten, war eine ungeheuerl­iche Sünde – besonders dann, wenn es sich dabei um einen anderen Zweig der Brüderbewe­gung handelte. Ich erfuhr viele Jahre später, dass mein Vater als rebellisch­er Jugendlich­er genau diese Form der Grenzübers­chreitung wählte. Im Alter von 15 Jahren besuchte er eine Zusammenku­nft der „Open Brethren“. Ihr Glaube und der unsrige unterschie­den sich nur minimal. Ein Glaubensbr­uder aus einer anderen Stadt konnte an unseren Zusammenkü­nften nur teilnehmen, wenn er ein Empfehlung­sschreiben von den Aufsehern seiner Versammlun­g mitbrachte. Die „Open Brethren“hingegen hießen jeden willkommen, der versichert­e, dazuzugehö­ren. Daher auch ihr Name. Weitere Unterschie­de sind mir nicht bekannt. Dennoch geriet mein Vater dadurch in Schwierigk­eiten.

Er wurde gesehen, als er diesen Ort der Irrlehre verließ, und meinem Großvater wurde Meldung gemacht. Großvater Follett, ein Schuster mit einer Werkstatt in der Glamorgan Street, sah eine zu hohe Bildung als Grund für diese Verfehlung an und ließ den jungen Martin wissen, dass er am nächsten Tag von der Schule abgehen und sich eine Arbeit würde suchen müssen. (Fortsetzun­g auf der nächsten Seite)

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FOTO: GETTY Ken Follett hat fast 200 Millionen Bücher verkauft.

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