Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Seht den Menschen!“
Das Clemens-Sels-Museum in Neuss Neuss besitzt einige grafische Arbeiten des Künstlers Fritz Schaefler, die aus dem Nachlass des Neusser Rechtsanwalts Johannes Geller stammen, dem leidenschaftlichen Kunstsammler und Initiator der 1915 gegründeten „Gesellschaft zur Förderung Deutscher Kunst des 20. Jahrhunderts“.
Schaefler gehörte zur zweiten Generation der Expressionisten, deren Werke erst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Wie die frühen Expressionisten thematisierte auch er die Entfremdung des modernen Großstadtmenschen in einer industrialisierten Gesellschaft. Eigene traumatische Kriegserlebnisse wie seine schwere Kopfverletzung im Einsatz an der Westfront führten ihn zur künstlerischen Beschäftigung mit den Themen Krieg und Tod. Seine kolorierten Holzschnitte und Radierungen halfen ihm sicherlich bei der Bewältigung chronischer Ängste und Krisen.
In den Jahren 1918/19 schuf Schaefler zahlreiche druckgrafische Blätter mit religiösen Themen, die auch in der Tradition Paul Gauguins oder James Ensors standen, die der religiösen Kunst des ausgehenden 19. Jahrhundert einen gesellschaftskritischen und persönlichen Bezug gaben. Auch Schaefler projizierte in seinen Passionsdarstellungen das Leiden Christi auf seine eigene Existenz. Beispielhaft dafür ist das herausragende Blatt „Seht den Menschen!“, eine aquarellierte Federzeichnung, die bis zum 19. November in einer Sonderausstellung im Grafischen Kabinett zu sehen ist.
Sie zeigt die Verurteilung des Gottessohnes durch den römischen Präfekt Pontius Pilatus. Handschriftlich notierte der Künstler am oberen Blattrand den Satz „Sein Blut komme über euch und eure Kinder!“Schaefler modifiziert hier die Antwort des Volkes „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“(Matthäus 27, 21-25) auf die bekannten Worte des Pilatus „Seht, welch ein Mensch!“.
Der mit Anzug und Krawatte modern gekleidete Präfekt steht neben Jesus auf einem Podium über der Menschenmenge und erinnert den heutigen Betrachter an einen kommenden „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“. Der Künstler zeigt Jesus als hell erleuchtete Gestalt in Handfesseln aber ohne die bekannten Attribute seiner Passion wie Dornenkrone, Spottzepter und Mantel, bewacht von zwei Polizisten mit Pickelhauben. Der stille und ruhende Ausdruck seiner Körperhaltung steht in starkem Kontrast zu einer wild gestikulierenden und schreienden Menschenmenge, die seine Verurteilung fordert und bejubelt. In der anonymen Masse - so die scheinbar allzeit gültige Botschaft des Künstlers - ist der Mensch empfänglich für populistische Parolen und geneigt, unkritisch Entscheidungen zu treffen, die den Einzelnen diskriminieren und zu Unrecht verurteilen.