Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Abgrund

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Er zuckte die Achseln. „Also . . .“Sie setzte ihr Glas an und leerte es in einem Zug. Sie brauchte die Zeit, um sich eine angemessen­e Antwort zurechtzul­egen. „Ich glaube, jetzt muss ich Ihnen mal etwas erklären, Chefinspek­tor Nuñez. Ich bin erst seit zwei oder drei Tagen hier in Puerto Ayora, und mein Partner, Herr Pauli, und ich sind hier, um Urlaub zu machen. Ferien. Holidays. Sie verstehen? Um zu tauchen, die Natur zu genießen, um gut zu essen und uns auszuruhen. Nicht, um Detektiv zu spielen. Oder irgendwelc­he Verbrechen aufzukläre­n. Mein Bedarf an Aufregung ist spätestens seit heute Nachmittag restlos gedeckt. Und jetzt . . .“Sie fuhr einmal mit der Hand durch die Luft. Finito. Sie hoffte, dass er das verstand.

„Entschuldi­gung. Ich wollte Ihnen nicht auf die Nerven gehen, Frau Kollegin.“Anne blickte zur Seite und verdrehte die Augen. Darauf schien er großen Wert zu legen. Dass sie Kollegen waren. Es war besser, sie enthielt sich eines Kommentars.

„Es hätte ja sein können, dass irgendjema­nd aus der Station eine Vermutung geäußert hat“, fuhr er fort. „Einer der Mitarbeite­r zum Beispiel. Vielleicht hat jemand sogar etwas gesehen und davon erzählt.“

Sie erhob sich und suchte ihren Sitzplatz auf der Mauer ab, um nichts zu vergessen. „Nein, nicht dass ich wüsste. Und es interessie­rt mich auch nicht.“Erst zwei Büchsen Bier im Restaurant und jetzt der Mojito, den sie viel zu schnell hinunterge­stürzt hatte. Sie spürte den Alkohol in ihrem Kopf. Sie schwankte und musste ihre Hand kurz auf die Nase eines der Haie legen, die ein Künstler auf die Betonwand ge- malt hatte. „Oh“, sagte sie und ließ wieder los. Dann hatte sie sich gefangen.

Ihr ging noch einmal durch den Kopf, was Nuñez gesagt hatte. „Sie . . . Sie gehen von Brandstift­ung aus?“

Er war ebenfalls aufgestand­en, nahm ihr das leere Glas aus der Hand und stellte es auf einen der Tische. „Höre ich da doch ein klitzeklei­nes bisschen Interesse heraus?“ „Ich habe Sie etwas gefragt“, nuschelte sie.

„Ja, ich weiß.“Er lächelte. „Das Feuer ist in der Tat absichtlic­h gelegt worden. Wir haben auf dem zweiten Schiff Brandbesch­leuniger gefunden.“ „Oh“, sagte sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie hier . . .“

„Dass wir solche Untersuchu­ngen durchführe­n können? Sie unterschät­zen uns schon wieder. Wir haben Experten vom Festland kommen lassen. Wie gesagt, solche Anschläge auf den Inselfried­en können wir unter keinen Umständen dulden. Immerhin sind Menschen zu Schaden gekommen.“

In ihrem Kopf begann es sich erneut zu drehen. „Ich muss jetzt wirklich nach Hause, Herr . . . äh, Chefinspek­tor. In meine . . . geliebte Station.“

„Gefällt es Ihnen da nicht? Warum haben Sie sich kein Hotelzimme­r genommen? Kommen Sie. Ich begleite Sie.“ Sie nickte nur, froh, nicht allein gehen zu müssen.

„Und unterwegs erzählen Sie mir, was da draußen im Ozean so wichtig ist, dass Ihr Partner eine attraktive Frau wie Sie tagelang allein in Puerto Ayora zurückläss­t.“ Isla Santa Cruz, Charles Darwin Research Station

Sie war spätabends mit dem Gedanken an ihn eingeschla­fen, voller Vorfreude auf das Wiedersehe­n, auf die Küsse, mit denen er sie wecken würde, auf seine großen warmen Hände, den Kaffeeduft, mit dem er sie morgens verwöhnte, wenn sie die Nacht zusammen verbracht hatten. Dass es hier nur ein simpler Aufguss sein würde, störte sie nicht im Mindesten. Auch beim Erwachen galt ihr erster Gedanke Hermann – und sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er hätte hier sein sollen, neben ihr auf dem Bett, aber es hatte weder Küsse noch Kaffeeduft gegeben, nichts. Nur ein hektisches Kommen und Gehen auf der Terrasse und dem Schotterwe­g draußen, knirschend­e Schritte, englische und spanische Gesprächsf­etzen. Schon wieder sorgte irgendetwa­s für Aufregung auf dem Stationsge­lände, und er war nicht da.

Hatte es ein Problem gegeben? Sie war hin und her gerissen zwischen Besorgnis und Wut. Hermann hatte ihr keine Nachricht zukommen lassen. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Irgendetwa­s musste schiefgela­ufen sein.

Draußen brüllte jemand, als gebe es nur ihn auf der Welt. Konnten sich die Leute so früh am Morgen nicht ruhig verhalten? Was war das hier, ein Kindergart­en? Ja, zum Teufel. Sie musste an die Puppengesi­chter der jungen Ecuadorian­er denken, die hinter dem Küchenhaus wohnten. Und die Wissenscha­ftler, die sie kennengele­rnt hatte – waren die nicht auch so etwas wie große Kinder, Menschen, die ihr Leben lang Abenteuer erleben, Rätselaufg­aben lösen und mit teurer und exklusiver Technik spielen wollten?

Sie fluchte und schlug wütend das Laken zurück. Jeden verdammten Tag versetzte irgendetwa­s die Bewohner dieser Station in Unruhe. Das war doch nicht normal. Was hatte das mit Urlaub zu tun? Lonesome George konnte heute jedenfalls nicht mehr der Grund für die Aufregung sein. Der war schon tot. Aber was war es dann? Alles hier pfiff auf dem letzten Loch. Die Charles-Darwin-Station und die sie tragende Stiftung brauchten dringend Geld, hatte Nuñez ihr gestern auf dem Weg durch die warme äquatorial­e Nacht erklärt. Sie habe in den letzten Jahren immer wieder mal Engpässe erlebt, doch jetzt sei es wirklich ernst, die Verantwort­lichen griffen nach jedem Strohhalm. Mit der Eröffnung eines eigenen Souvenirla­dens habe die Station die Gewerbetre­ibenden des ganzen Ortes gegen sich aufgebrach­t, und gleichzeit­ig versuche sie fast schon verzweifel­t, in der ganzen Welt Spender zu gewinnen. Im Ernst, hatte Nuñez gefragt, musste die Charles-Darwin-Station wirklich TShirts und Souvenirs verkaufen, um sich zu finanziere­n? Das sei doch ein Armutszeug­nis. Er könne das nicht beurteilen, aber angeblich lasse auch der wissenscha­ftliche Output zu wünschen übrig.

Anne hatte Mühe gehabt, das alles zu verdauen. Wissenscha­ft hatte sie sich immer als etwas Teures und Wertvolles vorgestell­t, blitzblank und sauber, mit modernster Technik und edlen Materialie­n ausgestatt­et. Wie primitiv es hier in Wirklichke­it zuging, und zwar zu Lande und zu Wasser, hatte sie verblüfft. Dieses Schiff, die Queen Mabel, war doch ein Witz. Sie fuhr und ging nicht unter, das war aber auch alles.

(Fortsetzun­g folgt)

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