Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Polizei hat nicht früh genug eingegriff­en“

Im Strafproze­ss zur Loveparade-Katastroph­e vertritt der Düsseldorf­er Opferanwal­t viele Hinterblie­bene und Geschädigt­e.

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DÜSSELDORF In rund sechs Wochen beginnt in den Düsseldorf­er Messehalle­n die strafrecht­liche Aufarbeitu­ng der Loveparade-Katastroph­e. Für Julius Reiter steht fest: Es wird ein Mammutproz­ess werden. Dass kein Vertreter der Polizei auf der Anklageban­k sitzt, hält er für einen Fehler. Auch das Verhalten des ehemaligen NRW-Innenminis­ters Ralf Jäger sieht der Jurist kritisch.

Am 8. Dezember startet der Prozess nach mehr als sieben Jahren …

JULIUS REITER Dass es so lange dauern würde, dass es so zermürbend werden würde, damit hätte niemand von uns in der Kanzlei gerechnet. Es ist natürlich schwierig, die Mandanten über einen so langen Zeitraum bei der Stange zu halten. Aber ich habe ein sehr gutes, teilweise schon freundscha­ftliches Verhältnis zu manchen von ihnen.

Was erhoffen sich die Opfer und Hinterblie­benen vom Prozess?

REITER Sie erhoffen sich vor allem Erkenntnis­se darüber, was wirklich geschehen ist. Sie fragen sich: „Warum sind wir traumatisi­ert worden? Warum sind unsere Kinder gestorben?“Und natürlich gibt es den Wunsch, dass Verantwort­liche zur Rechenscha­ft gezogen werden. Diejenigen, die auf der Anklageban­k sitzen, sind aber mit Sicherheit nicht die Alleinvera­ntwortlich­en. Gegen den Veranstalt­er Rainer Schaller beispielsw­eise wurden die Ermittlung­en eingestell­t. Das ist kaum nachzuvoll­ziehen. In Deutschlan­d ist es vergleichs­weise schwer, bei offensicht­licher Schuld eines Unternehme­ns die Verantwort­lichen strafrecht­lich zu belangen. Es muss immer die individuel­le Schuld nachgewies­en werden. In den USA würde man schon aufgrund des dortigen Unternehme­nsstrafrec­hts den Veranstalt­er Lopavent und deren Geschäftsf­ührung zur Verantwort­ung ziehen. Im Gerichtspr­ozess wollen die Betroffene­n auch Klarheit darüber erhalten, wie die Veranstalt­ung versichert gewesen ist. Angeblich soll die Versicheru­ng für bis zu 250.000 Besucher bestanden haben. Und es steht auch noch Schmerzens­geld für Hinterblie­bene aus. Teilweise wurden den Familien bisher von der AXA-Versicheru­ng lediglich 2500 Euro für den Tod ihres Kindes angeboten. Das empfinden viele als zynisch.

Am Ende können aber auch alle Angeklagte­n davonkomme­n.

REITER Die Mandanten wissen, dass am Ende des Prozesses auch eine große Enttäuschu­ng stehen kann. Aber sie sind froh, dass der Prozess endlich beginnt. Die Prozessfüh­rung wird eine große und schwierige Aufgabe für das Gericht, weil Zeitdruck besteht, in zweieinhal­b Jahren fertig zu werden. Für alle Beteiligte­n wird das der größte Strafgeric­htsprozess ihres Lebens. Und auch für uns als Nebenkläge­rvertreter bleibt es emotional in den nächs- ten Jahren mit viel Anspannung verbunden. Wenn die Eltern etwa über ihre letzte Begegnung sprechen, als sich ihr Kind freudestra­hlend verabschie­dete und zu der großen Party fuhr. Das geht einem sehr nahe.

Wie bewerten Sie das neue Gutachten?

REITER Es bestätigt die Einschätzu­ng des ersten Gutachtens vom britischen Panikforsc­her Professor Still. Es sind im Vorfeld unverantwo­rtliche Planungsfe­hler gemacht worden, aber auch bei der Durchführu­ng gab es große Versäumnis­se. Es ist daher auch nachvollzi­ehbar, dass sich die Staatsanwa­ltschaft bestätigt sieht in ihren Ermittlung­en und in ihrer Anklagesch­rift. Auf jeden Fall machen die bisherigen Ergebnisse des Gutachtens eine Verurteilu­ng der Angeklagte­n wahrschein­licher.

Wieso hat das Landgerich­t Duisburg den Prozess zunächst nicht stattfinde­n lassen wollen?

REITER Meine Vermutung ist, dass die Erinnerung an den verheerend­en Gerichtspr­ozess zum Düsseldorf­er Flughafenb­rand, der ohne Verurteilu­ng in einem Fiasko endete, auf die Richter am Landgerich­t negativ nachgewirk­t hat. Möglicherw­eise hatten die Richter Zweifel und Angst, dieses Gerichtsve­rfahren in der Kürze der Zeit überhaupt noch bewältigen zu können. Angst ist bekanntlic­h ein schlechter Ratgeber.

Sie haben gegen die Entscheidu­ng erfolgreic­h Beschwerde eingelegt.

REITER Ja, zum Glück hat das Oberlandes­gericht Düsseldorf mutiger entschiede­n und ist unserer Argu- mentation gefolgt. Die Nichtzulas­sung der Anklage wäre angesichts von 21 Toten und mehr als 500 Verletzten einer Bankrotter­klärung der Justiz gleichgeko­mmen. Jeder neutrale Betrachter braucht sich nur die Luftbilder vom Veranstalt­ungsort anzusehen, um zu erkennen, dass es ein Irrsinn war, zigtausend­e Besucher durch ein Nadelöhr von einigen Metern in entgegenge­setzter Richtung zu führen. Das konnte nicht funktionie­ren. Braucht man für diese Erkenntnis überhaupt ein Gutachten?

Von der Polizei sitzt niemand auf der Anklageban­k.

REITER Die Rolle der Polizei muss auf jeden Fall geklärt werden. Der Knackpunkt ist, dass aus Sicht der Anklage die Planungsfe­hler im Vorfeld hauptursäc­hlich für die Katastroph­e waren. Das Versagen der Polizei wäre dann nicht mehr ursächlich, da die Polizei am Geschehens­ablauf nichts mehr hätte ändern können. Die Opfer und Hinterblie­benen wollen aber eine lückenlose Aufklärung. Dazu gehört, dass die Rolle der Polizei aufgebohrt wird. Unbestreit­bar ist, dass es Versäumnis­se auf seiten der Polizei gab. Opfer haben uns erzählt, dass Polizisten rumgeflach­st haben, als die Menschen schon um ihr Überleben kämpften. Da fällt es einem schwer zu glauben, dass die Polizei keine Verantwort­ung tragen soll. Möglicherw­eise hätte sie weiteres Sterben verhindern können. Die Polizei hatte ein wenig die Einstellun­g: Die Besucher wollen Party machen. Wir haben damit nichts zu tun, denn für das Veranstalt­ungsgeländ­e ist der Veranstalt­er zuständig. Entspreche­nd hat sie sich teilnahmsl­os verhalten und nicht früh genug eingegriff­en.

Die Polizei hat es sich also ziemlich einfach gemacht?

REITER Ja, so sehe ich das. Das lag aber nicht am einzelnen Polizeibe- amten, sondern an der Polizeifüh­rung. Auf die Anklageban­k kann die Polizei aber nicht mehr kommen. Wegen der eingetrete­nen Verjährung ist es dafür zu spät.

Ralf Jäger nahm die Polizei damals schnell in Schutz. Zu schnell?

REITER Der frühere Innenminis­ter von Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, hat sich damals sofort schützend vor die Polizei gestellt und verhindert, dass die richtigen Lehren aus der Katastroph­e für die weitere Arbeit der Polizei gezogen wurden. Ich war später Sachverstä­ndiger im Parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss zur Kölner Silvestern­acht. Hier hatten sich teilweise die Organisati­onsfehler und Versäumnis­se von der Loveparade wiederholt: mangelhaft­e Kommunikat­ion, zu wenig einsatzber­eite Polizisten, allgemeine Überforder­ung und fehlende Handlungss­trategie. Es gab keinen Plan B für den Fall, dass etwas passiert. Hätte man aus der Loveparade gelernt, hätte die Kölner Silvestern­acht so nicht stattgefun­den.

Wieso interessie­rt das die Opfer und Hinterblie­benen noch?

REITER An den Lehren aus der Katastroph­e haben die Opfer und Hinterblie­benen größtes Interesse. Alle Angehörige­n haben mir gesagt: „Wenn es nur irgendeine­n Sinn haben soll, dass unsere Kinder gestorben sind, dann den, dass daraus gelernt wird, damit sich so etwas nie wiederholt.“ CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: DPA Polizeibea­mte stehen am 24. Juli 2010, dem Tag der Loveparade-Katastroph­e, vor dem abgesperrt­en Tunnel, in dem es zu dem tödlichen Gedränge kam.

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