Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Mit Faust auf der „Baustelle des Lebens“

Regisseur Stefan Filipiak hat mit seinem Ensemble eine zeitgemäße Version von Goethes „Faust I“erarbeitet. Im Kulturforu­m „Alte Post“hatte das rund zweistündi­ge Stück jetzt Premiere – und wusste dabei zu gefallen.

- VON CLAUS CLEMENS

NEUSS Um Goethes „Faust“zu erzählen reicht es, die geflügelte­n Worte aus dem Drama aneinander zu reihen. Hier ist nur Platz für einige Wenige. Das geht los beim „Vorspiel auf dem Theater“. Drei Personen bestreiten die erste Szene. Der „Theaterdic­hter“ist streng genommen, kein Theaterdic­hter, sondern nur ein Dichter, weil es ihn vorm Publikum schaudert und weil er mehr an die Nachwelt als an den Augenblick denkt, in dem allein das Theater sich verwirklic­ht.

Die „Lustige Person“vertritt das reine Theater und will vor allem der Mitwelt Spaß bereiten. Der „Direktor“ist gewillt, „der Menge zu behagen“und weiß doch, dass er, um die Kassen zu füllen, den Dichter braucht. Am Ende dieses Gesprächs fällt das erste Zitat, das vermutlich jeder kennt: „Der Worte sind genug

Heinrich Faust hadert zwischen Flaschenzu­g und Dixi-Klo mit der Midlife-Crisis

gewechselt, lasst mich auch endlich Taten seh’n.“

Im Kulturforu­m „Alte Post“findet das Vorspiel noch vor dem Betreten des Bühnensaal­s statt. Zwar fehlt die „Lustige Person“, dafür aber lernt das Publikum alle acht Darsteller kennen, die sich die 17 Rollen des Goethe-Dramas teilen werden, einschließ­lich Pudel. Regisseur Stefan Filipiak hat nach sorgfältig­er Auswahl Erwachsene für ein Ensemble gefunden, das mit ihm an der Inszenieru­ng von „Faust I“arbeiten wollte. Das Ganze war ein großes Vorhaben. Stefan Filipiak resümiert im Programmhe­ft: „Nahezu ein Viertel unserer Probenzeit brauchten wir, um überhaupt gedanklich zu durchdring­en, was der Autor vielleicht sagen wollen könnte.“

Das Ergebnis ist ein sehr sehenswert­er, zweistündi­ger Theaterabe­nd. Auf der Bühne hat Bildhauer Jürgen Zaun eine Baustelle eingericht­et, mit Flaschenzu­g und DixiKlo. Es ist eine „Baustelle des Lebens“, auf der Heinrich Faust mit Midlife-Crisis und Burnout hadert. Gleichzeit­ig verhandeln Gott und Mephisto beim Leeren eines Flachmanns über die Seele des Gelehrten. Zweites Zitat, vom Bösewicht leicht lallend deklamiert: „Von Zeit zu Zeit seh‘ ich den Alten gern.“Auch das Volk hat Alkoholbed­arf. Beim Osterspazi­ergang, dessen Glockenkla­ng durch ein Handyläute­n ersetzt wird, grölt die Menge: „Einer geht noch, einer geht noch rein“, und das ist nicht von Goethe.

Im Übrigen aber hält sich Filipiaks Textfassun­g ziemlich genau an die klassische Vorlage, einschließ­lich mancher Stelle mit viel hehrem Pathos. Für die Unterhaltu­ng sorgt unter anderem der Pudel, von Gott und Mephisto in der Studierstu­be zum übermütige­n Fliegen gebracht. Drittes Zitat: „Dem Hunde, wenn er wohlerzoge­n, ist selbst der weise Mann gewogen.“

Für das vierte Zitat muss natürlich Gretchen herhalten. „Meine Ruh‘ ist hin, mein Herz ist schwer“, diesen Blues eines verliebt-verzweifel­ten Jungfräule­ins hört man als Power-Rap. Gleichzeit­ig wird Faust von Mephistos Helfern mit Massage, Red Bull, Achseldeo und Mundspray auf sein erotisches Abenteuer vorbereite­t. Der Rest ist bekanntlic­h nicht Schweigen, sondern zwei Morde, viel Frust und Kerkerelen­d. Somit fünftes Zitat: „Heinrich! Mir graut’s vor dir.“

Die Spielleist­ung der Amateure ist beachtlich, ihre sprachlich­e Leistung hervorrage­nd. Vier Darsteller seien dabei besonders erwähnt: Ernst Geesmann als Faust mit riesiger Textmenge, die er souverän beherrscht. Weiterhin Martina Völkel als Gretchen und Traudel PothenSalv­ati, die ganze sechs Rollen stemmt. Der Mephisto von Vanessa Harbrecht ist eine Glanzleist­ung, die allein den Besuch dieser Inszenieru­ng lohnt.

Hierzu das sechste und auch letzte Zitat: „Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“

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FOTO: STEFAN FILIPIAK Die Zeiten waren schon mal bessere: Heinrich Faust (gespielt von Ernst Geesmann) hadert im Kulturforu­m „Alte Post“mit dem Leben. Gott und Mephisto verhandeln beim Leeren eines Flachmanns über die Seele des Gelehrten.

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