Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nur in einem Punkt waren sich alle Kirchen und Konfession­en einig: Die Konkurrent­en waren Ausgeburte­n der Hölle

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statiert, sondern auch den Unwillen, diese zu beheben. 1512 bis 1515 ist auf einem Konzil im Lateran viel Reform verkündet, aber so gut wie nichts davon umgesetzt worden – sehr zur Enttäuschu­ng der Reformkrei­se innerhalb der Kirche. Ihnen fehlt es bislang an Prominenz und Einfluss, um ihre Vorstellun­gen in die Praxis umzusetzen.

So ist um 1520 ein Scheidepun­kt erreicht. Luther ist bislang durch die Bissigkeit seiner Kritik aufgefalle­n, fällt aber aus dem Reform-Spektrum der Zeit noch nicht heraus. Jetzt stellt er auch die Lehre infrage – nach der Fragwürdig­keit des Ablasses und der Machtüberd­ehnung des Papsttums, das zu Unrecht Verfügungs­gewalt im Jenseits beanspruch­t, bestreitet er jetzt zentrale Dogmen und Lehrentsch­eidungen aus den letzten 900 Jahren und ersetzt sie durch neue Doktrinen:

Sakramente vermitteln kein Heil mehr, sondern sind bloße Zeichen für die Stärkung im Glauben, der allein die Rechtferti­gung des sündigen Menschen vor Gott bewirkt; dieser Glaube ist das Geschenk der Gnade, die Gott nach unerforsch­li- chem Ratschluss den einen gewährt und den anderen verweigert, ohne dass diese Einfluss auf diese Entscheidu­ng haben; und das alleinige Maß der Rechtgläub­igkeit ist die Bibel, und zwar in der Auslegung Martin Luthers, seines Zeichens Gottes Dolmetsche­r. Die Tradition der Kirchenvät­er und Heiligen ist zweitrangi­g und verzichtba­r, da als Menschenwe­rk stets irrtumsgef­ährdet.

Diese radikalen Positionen haben die Bildung einer neuen Kirche ohne geistliche­n Stand unter der Oberhoheit der weltlichen Obrigkeit zur Folge. Sie leiten sich aus dem Reformidee­n-Pool der jüngeren Vergangenh­eit ab und steigern diese zugleich zu einem Extrem, das für die Mehrheit der italienisc­hen, spanischen und französisc­hen Theologen unannehmba­r ist. Diese Eskalation kommt in stetiger Auseinande­rsetzung Luthers mit seinen römischen Gegnern zustande. Sie ist die Frucht einer kontrovers­en, auf beiden Seiten schnell schrille Töne annehmende­n Debatte, die durch nationalis­tische Vorurteile geprägt ist und früh die Form wechselsei­tiger Abstoßung annimmt.

Gerade dadurch liefert sie beiden Parteien die benötigte Identität durch wirkungsvo­lle Feindbilde­r: Luther, der trunksücht­ige Barbar, die größenwahn­sinnige Marionette machtgieri­ger Fürsten auf der römischen, Rom, die Hure Babylon, auf der wittenberg­ischen Seite. Die Reformatio­n ist von Anfang an ein Gegenentwu­rf zu den Positionen des Papsttums, ohne dass man auf die Idee gekommen wäre, sie mit einem entspreche­nden Ausdruck wie „Gegenromis­ierung“zu belegen.

Parallel dazu schreitet die Ausbildung von Erneuerung­skonzepten innerhalb der katholisch­en Kirche voran. Dabei ergibt sich auf beiden Seiten ein gärendes und alles andere als einheitlic­hes Meinungsbi­ld. Nördlich der Alpen schlägt es sich in der sozialrevo­lutionären Bewegung Thomas Müntzers, in Täufergeme­inden, die das unmittelba­re Ende der Zeit gekommen glauben, und in der republikan­ischen Reformatio­n Huldrych Zwinglis in Zürich nieder; südlich davon bildet sich ein nicht minder kontrastre­iches Spektrum aus, das von dogmatisch­er Duldsamkei­t bis zum Konzept eines alle abweichend­en Tendenzen mit dem Scheiterha­ufen verfolgend­en Inquisitio­ns-Katholizis­mus reicht.

Mit dem Gütesiegel „katholisch“werden auf dem Konzil von Trient (1545–1563) Positionen versehen, die sich in der Auseinande­rsetzung mit den reformiert­en Gegenmeinu­ngen herausbild­en, im Kern aber in der theologisc­hen und humanistis­chen Tradition der Kurie begründet sind: dass der Mensch im Gegensatz zu den Prädestina­tionslehre­n Luthers, Zwinglis und Calvins einen Rest von freiem Willen besitzt, der ihn dazu befähigt, die von Gott angebotene Gnade abzulehnen oder anzunehmen und dadurch eigene Verdienste zu erwerben; dass die guten Werke, in der richtigen Gesinnung verrichtet, heilswirks­am sind und dass die Auslegung der Bibel eine Sache kollektive­r, generation­enübergrei­fender Weisheit ist und, um die Einheit der Kirche zu gewährleis­ten, vom Papst entschiede­n werden muss. Alle diese Dogmen stehen in schroffem Gegensatz zu den Lehren der Reformator­en und sind doch mehr als deren bloße Bestreitun­g, nämlich Frucht kontrovers­en Denkens und Glaubens, das bis heute nicht zu Ende ist.

In einem Punkt aber waren sich alle Kirchen und Konfession­en ausnahmswe­ise einig: Sie verdammten ihre Konkurrent­en als Ausgeburte­n der Hölle und versuchten diese teuflische­n Ursprünge an der grenzenlos­en Verdorbenh­eit, speziell den zügellosen sexuellen Ausschweif­ungen des gegnerisch­en Personals, festzumach­en. Zumindest dieser Ton hat sich heute zivilisier­t.

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