Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Unter dem roten Stern

Am 7. November 1917, heute vor 100 Jahren, erobern die Bolschewik­i die Macht in Russland. Es ist der Beginn eines Experiment­s, das Millionen Unschuldig­e das Leben kostet.

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Josef Stalin setzt sich nach Lenins Tod als neuer starker Mann durch. Er treibt den staatliche­n Terror mit Schauproze­ssen und Gulag-System auf die Spitze. kämpfer die Macht von der bürgerlich­en Regierung erobert, die ihrerseits acht Monate zuvor den Zaren gestürzt hat.

Im April ist Lenin aus dem Exil zurückgeke­hrt. Jetzt nehmen sich die Bolschewik­i mit Gewalt, was sie wohl auch auf demokratis­chem Wege bekommen hätten. Aber auf so etwas Bürgerlich­es wie Wahlerfolg­e warten? Nicht mit Lenin! Aus dem Untergrund schreibt er noch kurz vor dem Umsturz den Genossen, es gehe um Ehre oder Tod. Auf Mehrheiten zu setzen, sei „schändlich­e Formalität­sspielerei“. Das ist der Ton der kommenden Jahre.

Nach der Revolution steht Lenin als Chef des Rats der Volkskommi­ssare vor der Aufgabe, das ausgeblute­te Riesenreic­h zum Kommunismu­s zu führen. Kommunismu­s, das ist nach Karl Marx und Friedrich Engels die Aufhebung des Widerspruc­hs zwischen revolution­ärem Proletaria­t und ausbeuteri­scher Bourgeoisi­e. In der Theorie eine Aufwärtsen­twicklung nach wissenscha­ftlichen Gesetzen.

Die Bolschewik­i ertränken alle theoretisc­hen Spitzfindi­gkeiten in Blut. Das klingt dann so: „Unsere Staatsgewa­lt ist zu mild“, schreibt Lenin Anfang Mai 1918. „Die Diktatur setzt bei der Niederhalt­ung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdys eine wirklich feste und schonungsl­ose revolution­äre Staatsgewa­lt voraus.“Lenin unter- zeichnet Todesurtei­le am laufenden Band; seine Direktiven kosten Zehntausen­de das Leben. „Je größer die Zahl von Vertretern der reaktionär­en Bourgeoisi­e und Geistlichk­eit, die es uns zu erschießen gelingt, desto besser“, schreibt er 1922 dem Politbüro. Der Revolution­är ist auch ein ganz ordinärer Massenmörd­er, ein Schreibtis­chtäter. Die totalitäre Idee triumphier­t. Stalin wird den Staatsterr­or in seinen monströsen „Säuberunge­n“auf die Spitze treiben. Anfang der 50er Jahre sitzen gut zwei Millionen Menschen im Lagersyste­m des Gulag. Auf 2,5 Millionen allein zwischen 1930 und 1953 schätzt der Historiker Richard Overy die Zahl der Todesopfer. Zugleich fasziniert das bolschewis­tische Russland Künstler auf der ganzen Welt.

Die kommunisti­sche Wirklichke­it ist von Marx und Engels himmelweit entfernt. Die Weltrevolu­tion bleibt aus, weil die Arbeiter im hochkapita­listischen Westeuropa ihre Zukunft nicht im Umsturz, sondern mehr und mehr in Reformen sehen. Der Staat stirbt auch nicht ab. Im Gegenteil: Russland und die Sowjetunio­n unterhalte­n gigantisch­e Apparate zur Planung, Steuerung, Bespitzelu­ng und Unterdrück­ung. In Lenins Schriften taucht zu dieser Zeit immer wieder der Begriff des Kompromiss­es auf – nur so kann die Sowjetmach­t Der Massenmörd­er als Erlöser: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben“es heißt auf diesem sowjetisch­en Propaganda-Plakat. überleben. Einer heißt Neue Ökonomisch­e Politik. Lenin und Leo Trotzki führen 1921 marktwirts­chaftliche Elemente ein, um das Chaos von Revolution und Bürgerkrie­g zu lindern. Dennoch verhungern in Russland 1921 und 1922 fünf Millionen Menschen.

Die Oktoberrev­olution ist der Start eines bisher einzigarti­gen ökonomisch­en Experiment­s. Statt auf marktwirts­chaftliche Entscheidu­ngsprozess­e zu vertrauen, steuert die Führung die gesamte Produktion über ein Planungsbü­ro. Die Neue Ökonomisch­e Politik unterbrich­t das nur kurz. Stalin geht ganz zur detaillier­ten Planung über. In einem riesigen Buchhaltun­gssystem wird von oben der Bedarf der Bevölkerun­g ermittelt und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen verbunden. Die komplizier­ten Vorgänge einer Marktwirts­chaft sollen in diesem gewaltigen Räderwerk nachgebild­et werden – ohne Gewinnmaxi­mierung und Preismecha­nismus.

Schnell wird klar, dass das System die Planung und die Bereitscha­ft der Menschen überforder­t, dabei mitzutun. Zugleich ist ein Menschenbi­ld, das auch auf Erwerbssin­n und Anreize setzt, viel realistisc­her als das des neuen Sowjetmens­chen, der angeblich alles im Dienste der Gesellscha­ft tut. Sowohl die Sowjets als auch die osteuropäi­schen Satelliten­staaten experiment­ieren deshalb unentwegt, um diese Schwächen zu überwinden.

Erstaunlic­herweise lässt der Zusammenbr­uch des Kommunismu­s trotzdem auf sich warten. Die brutalen Investitio­nsprogramm­e führen in den sozialisti­schen Staaten sogar zu Wachstum. Erkauft ist all das mit unmenschli­cher Sklavenarb­eit und drakonisch­en Strafen. Als die Sowjetführ­er aufhören, Menschen wegen Nichterfül­lung der Norm zu erschießen, macht sich allerdings neben gigantisch­en Fehlplanun­gen auch ein enormer Schlendria­n breit. Die sozialisti­schen Länder fallen zurück.

Der Kommunismu­s geht 1989/90 wirtschaft­lich, politisch und moralisch bankrott. Und wenn auch in der Geschichte nichts zwangsläuf­ig ist – eine gewisse Folgericht­igkeit wird man diesem Kollaps nicht absprechen können. Für den ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin ist das Ende der Sowjetunio­n die „größte geopolitis­che Katastroph­e des Jahrhunder­ts“. Dieser postsowjet­ische Phantomsch­merz quält die Welt bis heute, mit blutigen Ergebnisse­n von der Ukraine bis Tschetsche­nien.

Für die kommunisti­schen Regime, die die Implosion der UdSSR überlebt haben, gibt es nur eine Lebensvers­icherung, wenn das Ziel ein gewisser Lebensstan­dard sein soll: marktwirts­chaftliche Öffnung. China und Vietnam gehen diesen Weg. Politisch sind beide Staaten lupenreine Diktaturen. Ein wirtschaft­lich erfolgreic­her Kommunismu­s mit menschlich­em Antlitz? 100 Jahre nach der Oktoberrev­olution lautet die Antwort: Fehlanzeig­e.

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