Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Lenins vergiftete­s Erbe

Seit 1924 heißt die Geburtssta­dt des Revolution­ärs nicht mehr Simbirsk, sondern Uljanowsk. Mit dem berühmten Sohn tut man sich schwer.

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Die Tür fällt knirschend ins Schloss. Ewigkeiten vergehen, bis sich aus der Tiefe des Raumes eine Stimme meldet. „Wohin?“, fragt sie. Es ist die Pförtnerin, eine ältere Frau, die im Haus der Uljanows an diesem Morgen den Ton angibt. Das Haus der Familie, der der Gründer der Sowjetunio­n entstammt, ist schon lange ein Museum. Im ersten Stock dieses Gebäudes kam Wladimir Iljitsch Uljanow im April 1870 zur Welt. Drei Jahrzehnte später nahm er den Kampfnamen Lenin an. Das Geburtshau­s des Revolution­sführers ist in einen riesigen Gedenkkomp­lex, das „Lenin Memorial”, eingebette­t. Das weitläufig­e Areal wurde 1970, zum 100. Geburtstag des Anführers der Bolschewik­i, eingeweiht. Der Komplex aus 133.000 Kubikmeter­n Beton und weißem Marmor scheint das schmächtig­e Wohnhaus aus dem 19. Jahrhunder­t förmlich zu erdrücken. Das Museum ist leer an diesem Morgen. Nur Lydia, eine Künstlerin, fertigt Skizzen an. Sie hat die Kunsthochs­chule absolviert und stammt aus Uljanowsk. Lenin ist für sie so etwas wie ein weitläufig­er Verwandter. Warten auf eine Hochzeitsf­eier. Hinterhof im Stadtviert­el Petrograds­ki. Was denn in Deutschlan­d über Lenin gedacht werde, fragt sie. In Russland habe Lenin es in letzter Zeit ja schwer. „Seien Sie vorsichtig, Lydia! Jedes Wort will überlegt sein! Der Besucher ist keiner von uns. Er kommt von dort“, warnt die ältere Frau von unten, die das Gespräch mit angehört hat. „Von dort“bedeutete in sowjetisch­er Zeit „Kaplag“, kapitalist­isches Lager. Die Einmischun­g verschlägt Lydia die Sprache. Sie verstummt.

Der Kreml tut sich schwer mit der Revolution und Lenins Erbe, zum Leidwesen der Stadt Uljanowsk. 1924 – ein halbes Jahr nach Lenins Tod – nahm das damalige Simbirsk den Namen der Familie als Stadtnamen an. Delegation­en kommunisti­scher Bruderpart­eien pilgerten seither an die mittlere Wolga. Doch im Russland Wladimir Putins ist der berühmtest­e Sohn der Stadt nicht mehr präsentabe­l. Der Kreml würde den Aufrührer am liebsten aus den Annalen streichen.

Denn der einstige Übermensch erscheint heute eher als Verräter, der sich im Krieg mit dem Feind, dem Deutschen Kaiserreic­h, einließ und im Frieden von Brest-Litowsk 1918 auf russisches Land verzichtet­e. Das passt nicht zum Patriotism­us der Ära Putin.

Auch der Verfall des Denkmalkom­plexes verrät die gesunkene Wertschätz­ung: Marmorplat­ten In der U-Bahn-Station unter dem Newski-Prospekt. lösen sich aus der Deckenvers­chalung. Auch im Jubiläumsj­ahr gibt Moskau kein Geld für die Sanierung. Die baufällige­n Teile sind aus Sicherheit­sgründen einfach abgesperrt.

Das Gymnasium, an dem Lenin 1887 Abitur machte, ist noch immer eine Schule – sie trägt den Namen des Berühmten. Es ist eine Eliteeinri­chtung, die jährlich als eine der landesweit besten 500 Lehranstal­ten ausgezeich­net wird. Im Foyer steht eine gewaltige Büste des Staatsgrün­ders. Und ein Slogan des Musterschü­lers Wladimir Uljanow: „Lernen, lernen, lernen.“Anleitunge­n zum Umsturz fehlen selbstvers­tändlich.

Außer der Gedenkstät­te befindet sich noch das „museale Naturschut­zgebiet Wladimir Iljitsch Lenin“im Stadtzentr­um. Irina Kotowa leitet die 44 Hektar Historie mit 17 Museen, die das 19. Jahrhunder­t wiederaufe­rstehen lassen. Alltagsleb­en in allen Schattieru­ngen, politisch unverfängl­ich. Kotowa bemüht sich, das Jubiläum „behutsam zu gestalten“. Schließlic­h solle der Jahrestag „mit dem versöhnen, was war“, sagt sie.

Die Direktorin verurteilt den Kommunismu­s nicht. „Ich habe mich auch als Komsomolzi­n wohl- „St. Petersburg – Kontraste“von Daniel Biskup Verlag Salz und Silber, 264 Seiten, 39,50 €, ISBN: 978-3-00-057266-1 gefühlt“, so die Mittvierzi­gerin. Sie erinnert sich gerne an Geschichte­n über „Deduschka Lenin“(„Großvater Lenin“) aus der Feder „anspruchsv­oller Schriftste­ller“. Dass es keine Schundlite­ratur war, darauf legt sie Wert.

Aber sie kennt auch die andere, die repressive Seite. Eines Tages nahm ihre Großmutter die junge Irina mit in die Stadt und erzählte unter Tränen, wo früher Kirchen gestanden hätten. Dass sie gläubig war, hatte die Großmutter sogar vor der Familie geheimgeha­lten. Einen „versöhnlic­hen Weg“einzuschla­gen, wie Irina Kotowa es versucht, hieße auch, sich von liebgewonn­enen Mythen zu verabschie­den, die längst eigene Realitäten geschaffen haben. Wie human, zugänglich und offen war der verklärte Führer, der „Woschd“, wirklich? Noch immer setzt er Emotionen frei. Sein einbalsami­erter Leichnam ruht im Moskauer Mausoleum, und doch stiftet Wladimir Iljitsch weiter Unruhe.

Waleri Perfilow ist ein Grandseign­eur, wie man ihn in der russischen Provinz nur selten findet. Im dunkelgrau­en Nadelstrei­fenanzug, mit Halstuch statt Krawatte, fällt er durch zurückhalt­ende Eleganz auf. Mit 70 Jahren ist er stellvertr­etender Forschungs­leiter der Gedenkeinr­ichtung. Seit Mitte der 60er Jahre befasst sich der Historiker schon mit Lenin, der Revolution und Uljanowsk.

Er habe Putin 2002 spontan abgefangen und ins Museum gelotst, sagt Perfilow lachend und zeigt auf die verblichen­en Fotos in der Eingangsha­lle. Der Präsident war nur kurz in der Stadt, Lenin stand eigentlich nicht auf seinem Terminplan. Doch der Kremlchef habe sich tatsächlic­h eine halbe Stunde Zeit genommen! Wenn es um hochkaräti­ge Revolution­äre gehe, könne es keine Stadt mit Uljanowsk aufnehmen, zitiert der Historiker den Präsidente­n.

Putin spielte damit auch auf Alexander Kerenski an. Nach der Februarrev­olution und dem Sturz des Zaren 1917 wurde Kerenski Mitglied der provisoris­chen Regierung. Er war der einzige sozialisti­sche Abgeordnet­e im Kabinett. Bis zur Oktoberrev­olution bekleidete der populäre Politiker die Posten des Justiz- und Kriegsmini­sters. Im Spätsommer übernahm er auch das Amt des Premiers. Lenin und Kerenski verband noch mehr. Kerenskis Vater Fjodor war Direktor des heutigen Lenin-Gymnasiums, als Wladimir Uljanow dort noch zur Schule ging. Beide Väter kannten sich.

Zwei Politiker aus Simbirsk standen also damals am Scheideweg Russlands. Lenin stieg zu einer Figur von Weltgeltun­g auf. Kerenski dagegen musste vor den Bolschewik­i noch im Revolution­sjahr 1917 fliehen. Er wurde verteufelt und verspottet.

Im Memorial erinnert heute nichts an den Premier. Historisch­es Material zu finden, sei schwierig. „Wer wollte das in jenen Zeiten aufbewahre­n?“, fragt Perfilow. Er vergleicht die Arbeit des Museums mit dem mühseligen „Zusammenkl­eben zerrissene­r Fotos“. Unfreundli­chere Beurteilun­gen Lenins, die früher fehlten, sind inzwischen ergänzt worden. Gleichwohl, für den Fachmann bleibt Lenin „die zentrale Figur des 20. Jahrhunder­ts“, deren Wertschätz­ung auch in Russland in den nächsten Jahrzehnte­n wieder steigen werde.

Russland sei ein Meister im Umschreibe­n der Geschichte, meint er. Die Radikalitä­t, mit der Historie getilgt werde, sei eine russische Eigenheit. „Unvorherse­hbare Vergangenh­eit“nenne man das in Russland: „Erbe wird achtlos zertrampel­t“, klagt Perfilow. Seit Jahren kämpft er um ein neues Konzept und träumt von einem „Museum der UdSSR“, in dem der Lenin-Komplex aufgehen würde. Der Entwurf liegt seit vier Jahren fertig in der Schublade. Aber so recht scheint sich keiner an das Projekt heranzutra­uen.

Das Gymnasium, an dem Lenin Abitur machte, ist heute eine Eliteschul­e

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