Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Aufstand für den Anstand
Was ist nur los? Im Theater sitzen Väter und Mütter neben ihren erwartungsfrohen Kindern im Märchenstück – und beantworten Textnachrichten auf ihren Handys. Und zwar auch noch, als das Stück längst begonnen hat. Dass das Licht ihrer Bildschirme alle Umsitzenden stört, kümmert sie nicht. Welches Vorbild sie abgeben, auch nicht. Genau wie die Leute, die mit Pulle Bier und Fluppe im Martinszug mitlaufen. Oder im Einschulungsgottesdienst so laut erzählen, dass sie gar nicht mitbekommen, was vorne geschieht. Das Gefühl für den Ort ist ihnen abhandengekommen. Im Internet wird gepöbelt, auf der Straße gedrängelt, gehupt, gegängelt. Wenn es zum Unfall kommt, ist Gaffen ein Massensport. Feuerwehrleute berichten, dass die größte Herausforderung in ihrem Job inzwischen ist, beim Hantieren am Einsatzwagen nicht von genervten Pendlern überfahren zu werden.
Und dann sind da die Geschichten, in denen es offensichtlicher um Gewalt geht: die Randale zu Beginn des Karnevals in Köln. Der Tod eines Mannes in einer Bankfiliale, über den gestresste Durchschnittsbürger einfach hinwegstiegen. Die Angriffe auf Zeugen, die nach Unfällen zwischen Kontrahenten schlichten wollen. Der Trend, Leute zu erschrecken, reinzulegen, in Verlegenheit zu bringen; Suizide, Überfälle, schlimme Krankheitsdiagnosen vorzutäuschen – und die gefilmten Reaktionen der Hintergangenen ins Internet zu stellen. „Prank“(englisch für Streich) wird das genannt, Prank-Kanäle haben Millionen Abonnenten. Die Skrupel schwinden, das Bedürfnis, sich durch Häme, Schadenfreude, Sadismus Lustgewinn zu verschaffen, steigt.
Das sind beunruhigende Entwicklungen, die nicht einfach abzutun sind mit dem Hinweis, gutes Benehmen und Freundlichkeit seien nicht jedermanns Sache. Es geht nicht um gute Manieren, sondern um etwas, das mit Anteilnahme zu tun hat, mit dem Willen und Vermögen von Menschen, sich in die Haut anderer zu versetzen. Und es geht um wachsende Aggressionen in der Gesellschaft, um Nerven, die kollektiv blank liegen. Es geht um den Druck, unter dem immer mehr Menschen zu stehen scheinen. Und den sie ablassen – im Straßenverkehr, auf Sportplätzen, in harmlosen Kundengesprächen, die schnell in Beschimpfungen kippen. Die Zündschnur ist kurz geworden. Der Publizist Axel Hacke hat die Beunruhigung über den Verfall der guten Sitten aufgegriffen und ein Buch über Anstand geschrieben, das sich seit Wochen in den Bestsellerlisten hält. Anscheinend gibt es also nicht nur Zeichen für den Verfall des Anstands, sondern genauso Menschen, die sich darüber Sorgen machen. „Es ist wichtig, dass wir öffentlich darüber sprechen, wie wir miteinander umgehen“, sagt Axel Hacke, „denn es geht um das Klima, in dem wir uns bewegen. Wenn der Umgangston immer rüder wird, Pöbeleien etwa im Internet salonfähig werden, folgt irgendwann auch körperliche Gewalt. Dann wird in Altena ein Oberbürgermeister mit dem Messer attackiert – auch er wurde ja vorher massiv beschimpft.“
Verrohung beginnt immer scheinbar harmlos. In der Sprache. Im Benehmen. Und wenn selbst öffentliche Figuren wie US-Präsident Donald Trump mit Gehässigkeiten und üblen Beschimpfungen auf sich aufmerksam machen, setzt eine Gewöhnung ein, die irgendwann die Wirklichkeit verändert.
Als Ursachen für die Verrohung im Umgang miteinander sieht Hacke Stress und verdrängte Angst. „Wir leben in Zeiten massiver Veränderungen, für die es Schlagworte gibt wie Globalisierung und Digitalisierung“, sagt Hacke. Das verändere konkret den Alltag vieler Menschen und erzeuge ein hohes Unsi-
„Anstand ist die Fähigkeit, den Blick auf andere zu richten und deren Blick auf sich selbst“
Axel Hacke
Publizist