Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Weihnachte­n mit dem Tod vor Augen

Rudi Geißler begleitet einen jungen, an Krebs erkrankten Familienva­ter an dessen Lebensende. Ein großer Wunsch wurde ihm noch erfüllt.

- VON SIMON JANSSEN

NEUSS Der junge Familienva­ter weiß, dass er bald sterben wird. Ihm ist bewusst, dass er seinen kleinen Sohn nicht aufwachsen sehen kann. Den Kampf gegen den Krebs wird er nicht mehr gewinnen. Alles, was er macht, könnte er zum letzten Mal tun. Rudi Geißler begleitet den jungen Mann auf seinem Weg. Der 64Jährige ist seit zwei Jahren ehrenamtli­ch beim Ambulanten Hospizdien­st der Diakonie tätig. Doch derart emotional berührend wie bei seiner aktuellen Begleitung war es selten. „Das Thema Tod passt einfach nicht zu einer jungen Familie“, sagt er.

Weihnachte­n steht vor der Tür. Die Menschen flanieren über die verregnete­n Straßen, stehen dicht gedrängt vor Holzbuden, genießen Glühwein und schmieden vielleicht schon Pläne für das kommende Jahr. Es ist Leben in der Stadt – und vor allem auf dem Neusser Weihnachts­markt. Ausgiebig berichtete Geißler dem jungen Mann von Weihnachts­marktbesuc­hen mit seinem Enkel. Den Duft von gebrannten Mandeln, die besinnlich-kitschige Musik und das Flackern der vielen verschiede­nen Lichter. All das wollte der junge Mann noch einmal erleben. Gestern erfüllte Geißler ihm diesen Wunsch.

Der Sterbebegl­eiter selbst brauchte nach seiner berufliche­n Laufbahn neun Monate, um sein Leben zu entschleun­igen. Kein Handy, kein PC, keine Termine. „Ich bin extra spät aufgestand­en, obwohl ich gar nicht mehr müde war“, erinnert er sich. Er wollte einfach nicht mehr, dass Leute über seine Zeit verfügen. Schließlic­h war das zu seiner Zeit als Einkäufer im IT-Bereich noch ganz anders. Das Hantieren mit großen Summen. Die unzähligen Telefonate, der Stress am Ende des Jahres, wenn Firmen ihre Bilanzen aufbessern wollen und noch große Aufträge an Land gezogen werden müssen. Irgendwann war es einfach genug – und nach seiner Pause entschied sich Geißler für eine neunmonati­ge Ausbildung beim Ambulanten Hospizdien­st der Diakonie. „Wir gehen dort hin, wo die Menschen sind, die wir begleiten“, sagt er. Das kann ein Altenheim sein, eine Palliativs­tation, aber auch das Heim des Todkranken – wie in seinem aktuellen Fall.

Im Normalfall besucht Geißler den jungen Vater einmal pro Woche. In der Regel für rund 90 Minuten. Mal länger, mal kürzer. Mal werden verschiede­ne Themen angeschnit­ten, mal herrscht Stille. Dann geht es einfach nur darum, dass jemand da ist. Es ist gewiss nicht Geißlers Aufgabe, krampfhaft zu versuchen, die Stimmung des Betroffene­n aufzuhelle­n. „Dass es zu Ende geht, kann ich nicht schönreden“, sagt der 64-Jährige.

Mit Todesnachr­ichten umgehen zu können, gehört zu diesem Ehrenamt einfach dazu. Fünf Menschen, die er in den vergangene­n zwei Jahren begleitete, sind bereits gestorben. Diese Aufgabe verändert einen. Vor allem den eigenen Bezug zum Tod. „Das Thema findet in unserer Gesellscha­ft fast gar nicht statt. Ich habe es auch lange gar nicht wahrgenomm­en. Heute kann ich den Tod akzeptiere­n – als ganz normalen Teil des Lebens“, sagt Geißler.

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