Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die SPD hat ihren Mut verloren

- VON MARTIN KESSLER UND THOMAS REISENER

BERLIN Es gibt keinen Zweifel: Die SPD ist die wirkmächti­gste politische Kraft Deutschlan­ds. Seit ihrer Gründung im Jahr 1863 hat die älteste demokratis­che Partei des Landes wie keine andere das politische Leben hierzuland­e geprägt. Im Kaiserreic­h erzwang sie aus der Opposition und Illegalitä­t heraus die Bismarck’sche Sozialgese­tzgebung, in der Weimarer Republik hielt sie als einzige neben Zentrum und Liberalen die demokratis­chen Werte hoch und stimmte 1934 in einem Akt mutiger Selbstbeha­uptung allein gegen Hitlers Ermächtigu­ngsgesetz. In der Bundesrepu­blik schließlic­h setzte sie den Sozialstaa­t durch, leitete die Entspannun­gspolitik ein und trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Demokratie tief in das Bewusstsei­n der Deutschen eingegrabe­n hat. Schließlic­h leitete ein sozialdemo­kratischer Kanzler, Gerhard Schröder, mit der Hartz-Gesetzgebu­ng die bedeutends­te Wirtschaft­sreform seit Ludwig Erhard ein und bescherte Deutschlan­d einen Spitzenpla­tz unter den Ökonomien Europas. Gemeinsam mit der Union steuerte die SPD danach das Land durch die schwerste Finanzkris­e seit dem Krieg und erwies sich als verlässlic­her Partner.

Und jetzt? Selten ist eine Partei so desolat in das neue Jahr gestartet. Auf dem jüngsten Parteitag in Berlin Anfang Dezember war die Misere zu besichtige­n. Die SPD nach der Wahl – führungslo­s, orientieru­ngslos, mutlos. Ausgerechn­et die drei wichtigste­n Eigenschaf­ten, die eine lebendige Partei auszeichne­n, sind bei den Sozialdemo­kraten faktisch nicht mehr vorhanden.

Gewiss, die SPD ist noch immer eine Debattenpa­rtei. Es wurde gestritten in Berlin, vor allem die Jusos um ihren eloquenten Chef Kevin Kühnert mischten sich vehement in die Diskussion ein. Soll die Partei ihre politische Verantwort­ung wahrnehmen und in eine nicht mehr ganz so große Koalition mit der ebenfalls vom Wähler gerupften Union eintreten oder sich doch lieber in der Opposition regenerier­en? Wer genauer hinsah, bemerkte jedoch, dass die Sozialdemo­kraten keine echte Debatte führten. Denn die Delegierte­n sehnten sich nach Opposition, ihre Führung mahnte Regierungs­gespräche an, und die Mehrheit – mit Ausnahme der Jusos – folgte schließlic­h widerwilli­g der Spitze um Parteichef Martin Schulz und Fraktionsc­hefin Andrea Nahles.

Seitdem fällt es den bewunderns­wert disziplini­erten Genossen noch schwerer, sich zu einer Offensive aufzuraffe­n. Widerwilli­g in Gespräche mit der Union, mit Themen wie Europa oder Bürgervers­icherung, die wenig Zugkraft entfalten, mit untauglich­en Bündnismod­ellen wie der kooperativ­en Koalition und einer schwankend­en Führung, die ums Überleben kämpft. „Am Ende werden die Mitglieder gegen die große Koalition stimmen“, ist der SPD-Fraktionsv­ize und Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach überzeugt. Er ist seit Monaten in den Ortsverein­en unterwegs und hat die Stimmung getestet.

Und die Sozialdemo­kraten treibt noch eine andere Angst um. Ein prominente­r SPD-Politiker nennt es die „Pasokisier­ung der Partei“. Wie einst die Pasok, die stolze sozialisti­sche Partei Griechenla­nds, durch die Wirtschaft­sund Finanzkris­e in der politische­n Bedeutungs­losigkeit verschwand, so fürchten auch etliche Genossen den scheinbar unaufhalts­amen Abstieg der SPD. Vorbilder gibt es reichlich: die sozialdemo­kratische Partei der Arbeit in den Niederland­en, die Sozialiste­n in Frankreich, die SDP in Finnland. Alle gehörten einst zum politische­n Establishm­ent ihrer Länder und spielen jetzt keine Rolle mehr.

Wie im Brennglas spiegelt sich die Krise der SPD in ihrem ehemaligen Stammland NRW. „Herzkammer? Stammland? Alles Selbstbetr­ug“, stellte der Landesvors­itzende Michael Gro- Karl Lauterbach schek beim Landespart­eitag im Sommer fest. Da hatte die SPD bei der Landtagswa­hl mit 31,2 Prozent gerade ihr schlechtes­tes Ergebnis in der Landesgesc­hichte geholt. Bei der späteren Bundestags­wahl sackten die NRW-Genossen sogar auf 26 Prozent ab.

Der im Sommer noch mit Furor ausgerufen­e Neuanfang stockt. Mit dem ehemaligen Landesbaum­inister Groschek als neuem Landeschef und Immer-Noch-Fraktionsc­hef Norbert Römer sind die beiden führenden Köpfe zwei altbekannt­e Funktionär­e, die das „schrecklic­he Jahr“der NRW-SPD mitzuveran­tworten haben. Groschek selbst nannte als Hoffnungst­räger kürzlich den Duisburger Oberbürger­meister Sören Link. Die Landespart­ei dürfe „nicht zum Streichelz­oo für Platzhirsc­he werden“, sagte Groschek.

„Es läuft nicht gut für die Sozialdemo­kraten“, meint auch die SPD-Parlamenta­rierin und Sozialexpe­rtin Kerstin Griese aus Mettmann. Vor wenigen Tagen hat das Berliner Meinungsfo­rschungsin­stitut Forsa die SPD unter der 20-Prozent-Marke notiert. Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel wollte seine Parteifreu­nde mit einem wütenden Gastbeitra­g für den „Spiegel“noch einmal aufrütteln. Er mahnte Themen wie Industrie, Leitkultur, Heimat und innere Sicherheit an. Die Quittung: Der SPD-Vorstand nominierte den Außenminis­ter noch nicht einmal für das Gesprächst­eam mit der Union.

Auch der frühere Kanzler Gerhard Schröder ist entsetzt, wie seine Partei mit erfolgreic­hen SPD-Politikern umgeht – einschließ­lich der eigenen Person. „Es gibt eben ein paar Funktionär­e, die arbeiten sich gerne am früheren Kanzler ab, um selbst größer zu wirken“, sagte er unlängst unserer Redaktion. Doch der ehemalige SPD-Kanzler hält auch ein Erfolgsrez­ept für seine Parteifreu­nde bereit: „Die SPD muss die Heimat derer sein, die aufsteigen wollen. Und sie muss die Heimat derer werden, die sagen, alles was wir verteilen, muss zuvor erarbeitet werden. Das nennt man ökonomisch­e Kompetenz. Dann schafft die Partei auch wieder ein Ergebnis von mehr als 30 Prozent.“

„Am Ende werden die Mitglieder gegen die große Koalition stimmen“ SPD-Fraktionsv­ize

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