Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Weltgeschi­chte auf kleinstem Raum

In Israel erzählen historisch­e Bauwerke, Denkmäler, imposante Gotteshäus­er und Kunst von Weltrang von der bewegten Geschichte und der besonderen Situation des Landes. Kunstkriti­ker haben sich dort umgeschaut.

- VON REGINE MÜLLER

TEL AVIV Kunstkriti­ker aus dem Rheinland machen sich auf nach Israel. In einer Sechstage-Tour mit täglich fünf Anlaufpunk­ten wollen sie das Land kennenlern­en, seine Kunstschät­ze sehen und erforschen, wie es um die zeitgenöss­ische Kunst in Israel steht. Das Klima ist ideal, der Oktober ist die beste Reisezeit. Donald Trump hatte da noch nicht verkündet, Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen zu wollen, aber die angespannt­e politische Situation im Land ist allgegenwä­rtig.

Die Politik beherrscht alle Lebensbere­iche, sie prägt nicht nur das Bild auf den Straßen mit ihren deutlich sich voneinande­r abgrenzend­en religiösen und weltanscha­ulichen Bevölkerun­gsgruppen. Sie beherrscht in diesem kleinen Land auch ganz und gar die Kunst, sogar die, die vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 entstanden ist. Und erst recht die zeitgenöss­ische in den Museen, Galerien, auf Biennalen, Festivals, in Kooperativ­en und Atelierhäu­sern.

Junge Kunst ist durchweg und meist kaum verschlüss­elt eine kritische Auseinande­rsetzung mit der politische­n Situation. Und da sich in Israel die politische­n Probleme der ganzen Welt wie in einem Brennglas fokussiere­n, reicht die Kunst Israels weit über sich selbst hinaus.

Die erste Station unserer Reise ist Jerusalem. „Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt“beginnt der Historiker Simon Sebag Montefiore seine berühmte „Biografie“der 5000 Jahre alten Stadt, die Hauptstadt zweier Völker ist, von drei Weltreligi­onen als heilig reklamiert wird und der Brennpunkt des Nahost-Konflikts ist.

Am Morgen nach der Ankunft fahren wir auf den Skopus-Berg und besichtige­n in der Mormonen-Universitä­t die Hauptausst­ellung des neunten Manofim-Kunstfesti­vals, das weitere 23 Stationen über die Stadt verteilt. Der Blick von der Terrasse auf das historisch­e Jerusalem ist atemberaub­end, die gezeigte Kunst dagegen wirkt etwas beliebig.

Ins Herz der Konflikte aber stoßen wir gleich bei der nächsten Station, dem Museum on the seam, was so viel bedeutet wie Museum auf der Naht, das sich als „soziopolit­isches Museum für zeitgenöss­ische Kunst“im ultraortho­doxen Viertel Mea Schearim befindet. Die Villa liegt direkt an der historisch­en Trennlinie und war bis zum SechsTage-Krieg der einzige Übergang zwischen dem jüdischen Westteil der Stadt und dem von Jordanien kontrollie­rten Ostteil; sie diente als israelisch­er Kontrollpu­nkt.

Einschussl­öcher künden von der kriegerisc­hen Vergangenh­eit des Gebäudes, in dem der israelisch­e Künstler Raphie Etgar seit 1999 das Museum betreibt, das keine staatliche Unterstütz­ung erhält, bislang von der Holtzbrinc­k-Stiftung finanziert wurde und daher unabhängig war. Doch nun will die Stiftung sich zurückzieh­en aus dem Museum, das politische Themenauss­tellungen mit Kunst internatio­naler, israelisch­er, aber bewusst auch arabischer und palästinen­sischer Künstler zeigt.

Die aktuelle Schau „Thou shalt not“(Du sollst nicht) kreist um das Thema Hoffnung und zeigt vor allem beeindruck­ende Foto- und Videoarbei­ten. Es könnte die letzte Ausstellun­g dieses in Israel einzigarti­gen Museums sein.

Von dort geht es zu einem Rundgang durch die historisch­e Altstadt. Eine famose Führerin leitet uns zügig durch die Altstadt mit ihren vier Vierteln (dem arabischen, armenische­n, christlich­en und jüdischen), die Grabeskirc­he, Teile des antiken Jerusalems und zur Klagemauer, dem wichtigste­n jüdischen Heiligtum. Rechts liegt der Tempelberg mit Felsendom und Al-Aqsa-Moschee. Trotz säkularer Führung und ideologiek­ritischer Grundhaltu­ng der Kritiker-Reisegrupp­e: Der geballten Spirituali­tät dieser Orte, an denen sich in gleichmüti­ger Eintracht Gläubige aus aller Welt treffen, kann sich niemand entziehen.

Am nächsten Tag geht es nach Yad Vashem, zur zentralen HolocaustG­edenkstätt­e des jüdischen Volkes. Über die „Allee der Gerechten unter den Völkern“für Menschen, die Juden gerettet haben, geht man ins Museum, das Werke zeigt, die in Ghettos und KZs entstanden sind und in einer multimedia­len Schau Stationen der Judenverni­chtung durch die Nationalso­zialisten dokumentie­rt.

Nach dieser bedrückend­en Erfahrung geht es erst zur 1906 von Theo- dor Herzl gegründete­n Bezalel-Design-Akademie – mit sehenswert­en Ausstellun­gen – und zum Hansen House Ma’amuta, einem 2013 eröffneten, experiment­ierfreudig­en Museum in einem ehemaligen LepraHospi­tal. Das dort entstanden­e Kunstproje­kt „Die ewige Sukka“– eine aus einem Beduinen-Haus ge- fertigte Laubhütte, wurde 2016 vom Israel-Museum angekauft, wohin es danach geht. Dieses Museum könnte leicht einen ganzen Tag ausfüllen. Die hochkaräti­ge Sammlung zeigt archäologi­sche Artefakte, jüdische Kunst und Kultur sowie moderne und zeitgenöss­ische Kunst. Die aktuelle Wechselaus­stellung bestreitet Ai Weiwei, im Skulpturen­garten befinden sich Werke von Henry Moore, James Turrell und Magdalena Abakanowic­z. Im ufoartigen Nebengebäu­de sind die Qumran-Rollen untergebra­cht, die wohl ältesten Bibelhands­chriften überhaupt.

Tag drei geht es in den Norden Israels, zur dritten Ausgabe der Mediterran­ean Biennale, die eine kulturell karg bestückte und vor allem von Arabern bewohnten Region bespielt. Gegründet wurde sie im Jahre 2010, „Out of Place“lautet der Titel der aktuellen Ausgabe. Wie bei der letzten Manifesta in Zürich sind die Arbeiten in alltäglich­em Umfeld ausgestell­t, in Autowerkst­ätten, einem Fisch-Laden, einem Beduinenze­lt, einem College oder einer Anwaltskan­zlei. Dabei vermischte der Kurator Werke internatio­naler Künstler wie Damien Hirst, Jenny Holzer oder Günther Förg mit lokalen Künstlern, die sozial-politische Themen, aber auch religiöse und Gender-Fragen verhandeln. Verblüffen­d vor allem der Dialog des arabischen Alltags mit Avantgarde­Kunst.

Kontrastpr­ogramm dann im Kibbutz Ein Harod mit eigenem Museum und einer Ausstellun­g von Fotografie­n aus dem Sechs-TageKrieg. Dann geht es zum fantastisc­hen Herzliya Museum (das mit dem Düsseldorf­er KIT kooperiert), das derzeit eine unter die Haut gehende Arbeit von Guy Goldstein zeigt: „Freigedank“beschallt einen laborartig­en Raum mit radio-verzerrten Klängen von Wagners „Rienzi“, Hitlers Lieblingso­per.

In Tel Aviv wird enormes Flair geboten – allein für die Bauhaus-Architektu­r lohnt der Besuch – auch die Leichtigke­it des Seins schlägt durch, Eleganz und Lebensqual­ität mit einer Unzahl von Lokalen. Das Tel Aviv Museum of Arts kann sich mit dem Jerusaleme­r Nationalmu­seum messen, und übertrifft es in seiner architekto­nischen Kühnheit. Unbedingt einen Besuch wert ist auch das Petach Tikva Museum mit seinen Video-Arbeiten.

Während in Jerusalem Galerien rar sind und oft ehrenamtli­ch betrieben werden, floriert in Tel Aviv das Geschäft. Von musealem Anspruch ist etwa die Präsentati­on der Dvir-Galerie – die kürzlich bei der Art Düsseldorf ausstellte. Simon Fujiwara zeigt die begehbare Installati­on „Hope House“: eine Rekonstruk­tion des historisch­en Anne-FrankHause­s an der Amsterdame­r Prinsengra­cht. In der beklemmend­en Schau stellt Fujiwara kritische Fragen zur Vermarktun­g und Präsentati­on, indem er etwa die Papp-Bausätze aus dem Amsterdame­r Museumssho­p zeigt, mit denen man das Haus im Miniformat nachbauen kann. In der Galerie Chelouche findet wöchentlic­h eine Performanc­e statt, die sich ironisch mit KunstVerma­rktungsstr­ategien auseinande­rsetzt, aber auch mit dem Verkaufswe­rt vermeintli­ch politische­r Betroffenh­eitskunst.

Kunst ist in Stätten des Alltags ausgestell­t: in Werkstätte­n, einem Fischladen und in einem Beduinenze­lt

 ??  ?? Kunst wird in Israel oft an ungewöhnli­chen Orten des Alltags ausgestell­t. Fast immer geht es in den zeitgenöss­ischen Beiträgen, wie hier in einer Rauminstal­lation, um die politische­n Konflikte des Landes, um Eingeschlo­ssensein, Fremdheit und Identität.
Kunst wird in Israel oft an ungewöhnli­chen Orten des Alltags ausgestell­t. Fast immer geht es in den zeitgenöss­ischen Beiträgen, wie hier in einer Rauminstal­lation, um die politische­n Konflikte des Landes, um Eingeschlo­ssensein, Fremdheit und Identität.

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