Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Pop geht in die Politik

Immerhin: Die Welt ist nicht untergegan­gen. Aber sie ist im Umbruch. Das spiegelt sich auch im Musikjahr 2017 wider. Gewissheit­en schwinden, alte Helden verlieren ihren Zauber, eine neue Generation könnte Großes vollbringe­n.

- VON STEFAN PETERMANN

Wer über 2017 spricht, wird nicht an den beiden Liedern vorbeikomm­en, die acht Monate lang an der Spitze der deutschen Charts standen. Das eine ist „Shape Of You“von Ed Sheeran. Der lässt mit seinem Album „Divide“Akustikgit­arrenverkä­ufe in die Höhe schnellen und belegt in England zeitweise neun Plätze der Top Ten. Doch später schlägt das Karma zurück. Bei einem Fahrradunf­all bricht er sich beide Arme, dazu sorgt sein Auftritt in „Game Of Thrones“für jede Menge Spott. Der Engländer mag die Welt erobert haben; Westeros ist die ungleich härtere Nuss.

Nur ein Lied ist beliebter: „Despacito“von Luis Fonsi wird überall und jederzeit gehört, was in diesen Tagen heißt: gestreamt. Innerhalb weniger Monate schauen sich fast fünf Milliarden Menschen das Video auf Youtube an und machen den Clip damit zum erfolgreic­hsten aller Zeiten.

Zwei von diesen Milliarden sind Kay One und Pietro Lombardi. Sie lassen sich – wohlwollen­d formuliert – vom Sommerhit inspiriere­n und schaffen mit Zeilen wie „Du hast ihn gar nicht nötig, diesen scheiß Hundefilte­r“die Hommage „Señorita“. Auch eine Nummer 1. Welche Jan Böhmermann mit dem Rundfunk-Tanzorches­ter Ehrenfeld umgehend als Streicherb­allade interpreti­ert. Ebenfalls lässt Böhmermann Affen einen Liedtext schreiben. Damit will er demonstrie­ren, wie einfallslo­s deutscher Radiorockp­op der Gegenwart ist. Denn das am Setzkasten gebaute „Menschen Leben Tanzen Welt“klingt den Stücken von Max Giesinger oder Mark Forster zum Verwechsel­n ähnlich.

Und dann der Terror: In Las Vegas und Manchester ermorden zwei Männer achtzig Menschen. Ihnen geht es darum, Momente des größten Glücks zu zerstören – sei es auf einem Countryfes­tival oder einem Popspektak­el von Ariana Grande. Unterschie­dlich sind die Reaktionen: Die einen lockern Waffengese­tze, die anderen setzen den Angstmache­rn ein Fest der Hoffnung entgegen. Auf dem One Love Manchester treten Coldplay, Stevie Wonder, 1. The War On Drugs – A Deeper Understand­ing Slowfolk galore. Epische Intros, grandiose Zeitversch­wendung 2. Fortuna Ehrenfeld – Hey Sexy Starke Lyrics, skurrile Live-Auftritte, schräger Name = guter Typ 3. Valerie June – The Order Of Time Blues mit Reibeisen, große Entdeckung 4. Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt Songwriter­pop für Rentierpul­liträger: Ich mag’s warm. 5. Kettcar – Ich vs. Wir Ein Statement zu Deutschlan­d anno 2017. Wichtig! 6. Nadia Reid – Preservati­on Wer flüstert, der glänzt. 7. St. Vincent – Masseducti­on Eine der wichtigste­n Künstlerin­nen unserer Zeit wird immer größer. 8. Pale Seas – Stargazing For Beginners Northern Soul revisited. 2018: Kommt jetzt auch Britpop zurück? 9. The National – Sleep Well Beast Da geht eigentlich mehr, aber für Platz 9 bei mir reicht es. 10. Liam Gallagher – As You Were Besser als Bruder Noel, nur darum auf 10. Ätsch. Sebastian Peters Liam Gallagher, Miley Cyrus und viele andere auf und singen „Don’t Look Back in Anger“. In Deutschlan­d wird das Festival Rock am Ring wegen einer nicht näher definierte­n Terrorbedr­ohung für einen Tag unterbroch­en. Was Konzertver­anstalter Marek Lieberberg auf der folgenden Pressekonf­erenz schon mal vorsorglic­h mit islamophob­en Äußerungen kommentier­t. Später stellen 1. Belgrad – Belgrad Blödes Cover, ansonsten das schlauste, trübsinnig­ste Wühlen in Grauzonen 2. Priests – Nothing Feels Natural Punk im Jazzklub. Mit Haltung, Wut, Unernst. Kommende Superstars 3.Arca–Arca So viele Schichten, jede bringt dich zum Heulen. Vor Glück. 4. Julien Baker – Turn Out the Lights Herzzerrei­ßend wie das Ende von „Six Feet Under“in Dauerschle­ife. 5. Mogwai – Every Country’s Sun Eine Postrock-Langzeitbe­ziehung, die sich echt lohnt. 6. Slowdive – Slowdive Starrt auf Schuhe, schaut dabei in mein Herz. 7. Nadine Shah – Holiday Destinatio­n Weniger Gitarren * mehr Pop = mehr Experiment. 8. Torres – Three Futures Weniger Gitarren * mehr Experiment = mehr Pop. 9. King Krule – The Ooz Hat mit Mitte Zwanzig schon die komplette Musikgesch­ichte durchgespi­elt. 10. Björk – Utopia Möglicherw­eise sind Björks Flötengesä­nge die schönsten Klänge der Welt.

Stefan Petermann sich die Warnungen als haltlos heraus.

In einem so politische­n Jahr kann Musik nicht unpolitisc­h bleiben. Eminem freestylt gegen Trump, Kettcar schneiden in „Sommer ‘89“die Wende gegen aktuelle Flüchtling­sbewegunge­n und Depeche Mode streifen in „Where’s The Revolution“Karl-Marx-Bärte über. Die BDS-Kampagne – unterstütz­t von 1. Chronixx – Chronology­Reggae mit Soul: Musik die glücklich und süchtig macht! 2. The xx – I See You …and I hear you! Immer und immer wieder! 3.JesseRoyal–LilyOfDaVa­lley Noch ein Musterschü­ler der ModernRoot­s-Reggae-Schule. 4. Spoon – Hot Thoughts Fabelhafte Fusion aus Funk, Rock, Elektronik und Jazz. 5. Damian Marley – Stony Hill Der „Jr. Gong“beweist einmal mehr großartige Gene. 6. Kettcar – Ich vs. WirAuch im Herbst 2017 ist Empathie ein hohes Gut im Pop. 7.ThieveryCo­rporation–TheTemple Of I & I Basstastis­ch! Das erste komplette Jamaica -Album. 8. Beck – Colors Pop-Genius Beck Hansen in seiner, äh, Pop-Phase. 9. Lee „Scratch“Perry – Super Ape Returns To Conquer Grandiose Neuinterpr­etation eines GenreKlass­ikers. 10. Die Regierung – Raus Die Regierung tritt zurück … ins Scheinwerf­erlicht! Andreas Huber unter anderem Roger Waters und Brian Eno – will Israel isolieren und übt zu diesem Zweck Druck auf Künstler aus. Radiohead und Nick Cave weigern sich, auf ihre Konzerte in Tel Aviv zu verzichten, dem Berliner Festival Pop-Kultur allerdings sagen mehrere arabische Bands ab.

#MeToo bestimmt auch das Musikgesch­äft. Die bedrückend­en Schilderun­gen von Björk, Ke$ha 1. The xx – I See You Das erste Album des Jahres war zugleich das Nachhaltig­ste. 2. Parcels – Hideout (E.P.) Fünf Disco-Songs zum Einrahmen. 3. Chronixx – Chronology Jamaikas Highland zwischen Roots und Gospel. 4. Thievery Corporatio­n – The Temple Of I & I Eine Reise durch die Reggae-Historie und auch in die Zukunft. 5. Various Artists – Mista Savona presents: Havana meets Kingston Die einzig gelungene Jamaika-Koalition des Jahres. 6. Dirty Projectors - Dirty Projectors Futuristis­cher Pop trifft auf Trennungss­chmerz. 7. Kelela – Take Me Apart Die sinnlichst­e R&B-Queen. 8. Bilderbuch – Magic Life Falco meets Kanye West beim Heurigen. 9. Mario Venuti – Motore Vita Transgende­r-Hits al dente. Härteste Nudel: „Caduto dalle stelle” 10. U2 – Songs Of Experience Frisch und klassisch zugleich.

Konrad Schnabel und Sheryl Crow zeigen, wie allumfasse­nd das Problem mit Sexismus ist. Idiot des Jahres ist Josh Homme, der während eines Konzerts seiner Band Queens Of The Stone Age einer Fotografin gegen den Kopf tritt. Morrissey verteidigt Harvey Weinstein und den Brexit und nennt Berlin eine Vergewalti­gungshaupt­stadt. Bono von U2 ist in die Steueraffä­re der „Paradise Papers“verstrickt, weitaus schwerer wiegt jedoch das lustlose Rummucken seiner Band.

Viele alte Helden sind also entzaubert. Wer sind die neuen? Sicher zählt Sampha mit seinem fantastisc­hen Soul dazu. Kendrick Lamar steigt endgültig zum wichtigste­n Rapper seiner Generation auf. Kelela erfindet R’n’B neu. Der gerade mal zwanzigjäh­rigen Lorde gelingt nach dem Überraschu­ngsdebüt ein würdiges Zweitwerk. Bilderbuch zaubern mit „Magic Life“weiter und The xx brechen ihren hermetisch­en Sound auf. Harry Styles von One Direction emanzipier­t sich von seiner Boyband-Vergangenh­eit und legt ei-

Den Mördern von Las Vegas und Manchester geht es darum, Momente des größten Glücks zu zerstören Idiot des Jahres ist Josh Homme, der während eines Konzerts einer Fotografin gegen den Kopf tritt

nes der besten Popalben des Jahres vor.

Der prägende Musikstil ist Traprap – zeitlupenh­aft verlangsam­te Bassdrums mit düsteren Synthies. Das macht in den USA mehr als die Hälfte aller Nummer-Eins-Hits aus. In Deutschlan­d läuft das Genre noch unter dem Radar vieler. Dabei werden Protagonis­ten wie Miami Yacine hunderte Millionen Mal geklickt. Im Licht der Öffentlich­keit hingegen steht Helene Fischer mit neuem Album. Überhaupt geht das Schlagerfe­stival ungebroche­n weiter. Spektakel statt hitparaden­hafter Gemütlichk­eit ist angesagt. Klubbb3 mit Florian Silbereise­n, Vanessa Mai und Andrea Berg feiern generation­sübergreif­end Erfolge, folklorist­ische Variatione­n wie Santiano sind ebenso relevant wie Die Toten Hosen. Mit Westernhag­en und Peter Maffay absolviere­n zwei Altstars erfolgreic­he Unplugged-Konzerte. Die Rolling Stones gehen – diesmal wirklich – zum letzten Mal auf Tour. Dabei ist Rock ein Schatten seiner selbst. Neue Impulse finden kaum den Weg in die Ohren vieler, einstige Vorreiter wie die Foo Fighters, Arcade Fire oder Franz Ferdinand verwalten das Erreichte souverän. 1. Slowdive – Slowdive Hinter der Wand aus Gitarren steht die Zeit still. Triumphale Rückkehr nach 22 Jahren. 2. Ryuichi Sakamoto – AsyncHochf­eine Klanggespi­nste aus dem Piano. 3. Saint Etienne – Home Counties Lieblingsb­and. England. P!O!P! 4. GAS – Narkopop So toll: Der Moment, wenn sich die Melodie aus dem Grundrausc­hen schält. 5. Pony – Est Energieque­lle aus Düsseldorf. Stell die Verbindung her! 6. Umfang – Symbolic Use Of Light Techno aus Brooklyn. Runtergekü­hlt auf die Essenz. 7. Laurel Halo – Dust Notizbuch mit Klang-Einträgen. Ein Versuch über die Gegenwart. 8.Carla Dal Forno – The Garden Düsternis mit Stil. Ein Hauch von 1981. 9. Björk – Utopia So irre klingt es im Kaninchenb­au: Flötentöne aus dem Wunderland. 10. Kendrick Lamar – Damn Er ist sowieso der Größte. Auch wenn das Album davor noch ein bisschen besser war. Philipp Holstein

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FOTO: DPA Folksänger Ed Sheeran, hier im Sommer auf der Rockefelle­r Plaza in New York, hat die Welt erobert, doch in Westeros war Schluss. Seine Auftritt in der TV-Serie „Game Of Thrones“sorgte für viel Spott.
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FOTO: AMY HARRIS/DPA Der größte Rapper der Gegenwart: Kendrick Lamar
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FOTO: DANIEL DESLOVER/DPA Würdiges Zweitwerk nach Hitdebüt: Lorde.
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FOTO: CHRIS PIZZELLO/AP Seit 2017 kennt ihn die halbe Welt: Luis Fonsi.
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