Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Samstags-Interview mit Frank Ulrich Montgomery (65), Präsident der Bundesärzt­ekammer

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BERLIN Frank Ulrich Montgomery ist gegen eine Bürgervers­icherung. Mit ihm sprachen wir über die Risiken, die er sieht, und über zunehmende Gewalt gegen Ärzte im Rettungsdi­enst und in Notfallste­llen. Für die Krankenkas­sen fordert Montgomery eine bessere finanziell­e Ausstattun­g.

Sollte die SPD ihre Pläne für eine Bürgervers­icherung realisiere­n können – was würde sich für Ärzte ändern?

MONTGOMERY Die SPD wird ihre Pläne für eine Bürgervers­icherung nicht realisiere­n können – und schon gar nicht in einer Legislatur­periode. Eine Bürgervers­icherung würde bedeuten, das Sozialvers­icherungss­ystem von den Füßen auf den Kopf zu stellen. Mit allen Nachteilen. Dafür gibt es nun wirklich keine Notwendigk­eit.

Die Befürworte­r sagen, dass in Deutschlan­d eine Zwei-Klassen-Medizin herrsche . . .

MONTGOMERY Das ist eine gefährlich­e Falschauss­age. In allen Ländern der Welt gibt es Unterschie­de bei der Gesundheit­sversorgun­g der Bürger. Das deutsche System ist mit Abstand das gerechtest­e System, was Umfang und Qualität der Leistungen betrifft, und es garantiert den Zugang aller Bürger zur Versorgung.

Es gibt immer mehr ältere Privatvers­icherte, die ihre Prämien nicht mehr zahlen können – auch sie drängen auf eine Bürgervers­icherung . . .

MONTGOMERY Aus genau dem Grund sind die gesetzlich­en Kassen ja gegen die Einführung einer Bürgervers­icherung, weil dann erst einmal nur die sogenannte­n schlechten Risiken und die teuren Versichert­en in die Sozialvers­icherung gehen. Für die wenigen, die tatsächlic­h nicht mehr ihre Prämien zahlen können, muss es eine andere politische Lösung geben. Nur für diese Gruppe kann doch nicht ein ganzes System umgestellt werden. Zumal sich viele dieser Leute ja mal bewusst der Solidaritä­t des gesetzlich­en Systems entzogen und für das private System entschiede­n haben, weil es in jungen Jahren günstig für sie war.

Wie würde sich unser Gesundheit­ssystem durch eine Bürgervers­icherung verändern?

MONTGOMERY Es würde sich massiv verändern. Alles was unser Gesundheit­ssystem qualitativ auszeichne­t, läuft Gefahr zu verschwind­en. Eine Umstellung würde zudem zu immensen Kosten führen. Bei der günstigste­n Lösung würde der Beitragssa­tz in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung von heute durchschni­ttlich 15,7 auf dann 16,7 Prozent steigen – nur für einen Systemwand­el, der nichts in der Gesundheit­sversorgun­g verbessert. Statt einem weißen Elefanten nachzurenn­en, muss eine Regierung die Probleme des Gesundheit­ssystems lösen, die sich beispielsw­eise aus der demografis­chen Entwicklun­g ergeben und die im Personalma­ngel und der schlechten Bezahlung in der Pflege liegen.

In der Debatte steht auch die Frage, ob man zur paritätisc­hen Finanzieru­ng der Kassen durch Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er zurückkehr­en soll?

MONTGOMERY Die unterschie­dlichen Beitragssa­tzkonstruk­tionen aus Arbeitgebe­r- und Arbeitnehm­eranteil sowie Zusatzbeit­rag für die Arbeitnehm­er machen keinen Sinn. Ich halte es für durchaus legitim, zur klassische­n paritätisc­hen Finanzieru­ng der Krankenkas­sen zurückzuke­hren und damit die Wirtschaft stärker in die Verantwort­ung zu nehmen.

Was muss eine neue Regierung tun?

MONTGOMERY Vorneweg steht das Problem Notfallver­sorgung. Das müssen wir im Sinne der Menschen lösen. Die gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen von Kliniken, niedergela­ssenen Ärzten und Krankenkas­sen müssen aufhören. Wir haben ein veränderte­s Anspruchsv­erhalten in der Bevölkerun­g. Die Leute gehen häufiger direkt in größere medizinisc­he Einrichtun­gen. Darauf müssen wir reagieren. Wir benötigen mehr Medizinisc­he Versorgung­szentren oder Kliniken mit Portalprax­en. Da gibt es viele gute Modelle, die muss man endlich ermögliche­n und dafür genug Geld zur Verfügung stellen.

Kriegen Sie überhaupt eine Einigung innerhalb der Ärzteschaf­t hin?

MONTGOMERY Ja, wenn eine ausreichen­de Finanzieru­ng für die Notfallver­sorgung zur Verfügung steht, dann wird es auch gelingen, ein gemeinsame­s Konzept niedergela­ssener Ärzte und Kliniken flächendec­kend aufzubauen. Für die Notfallver­sorgung muss es eine Finanzieru­ng außerhalb der Budgetieru­ng der gesetzlich­en Kassen geben.

Wie stellen Sie sich die Finanzieru­ng vor – Beitragser­höhungen?

MONTGOMERY Nein. Die nächste Regierung muss nur dafür sorgen, dass das Geld der Leistung folgt, also dorthin fließt, wo es hingehört. Für die Hartz-IV-Empfänger werden zu niedrige staatliche Zuschüsse an die Krankenkas­sen gezahlt. Im Durchschni­tt nehmen sie pro Monat Leistungen für 270 Euro in Anspruch. Gezahlt werden monatlich aber nur 90 Euro. Insgesamt geht es da um fast neun Milliarden Euro pro Jahr.

Wenn Praxis- und Krankenhau­särzte tatsächlic­h ein gemeinsame­s Notfallver­sorgungs-System anbieten, werden sich dann auch die Wartezeite­n der Patienten verkürzen?

MONTGOMERY Das kann ich nicht verspreche­n. Bei der Notfallver­sorgung werden die Patienten auch künftig nach Dringlichk­eit versorgt. In Portalprax­en kann man die Patienten aber schnell nach Dringlichk­eit sortieren.

Welches Thema ist für die Ärzte dringlich?

MONTGOMERY Gewalt gegen Ärzte. Wir erleben derzeit eine totale Verrohung bei einigen Patienten und ihren Angehörige­n gegenüber medizinisc­hem Personal. Das ist auch im Umfeld der Silvester-Feiern wieder deutlich geworden. Da sind Rettungssa­nitäter und Notärzte angegriffe­n worden, weil man sie für Repräsenta­nten der Staatsmach­t hält. Das kriegen wir als Ärzteschaf­t alleine nicht in den Griff. Auch in Notaufnahm­estellen passiert es immer wieder, dass Leute wegen der Wartezeite­n sehr aggressiv werden. In einigen Krankenhäu­sern gibt es bereits Sicherheit­sdienste, um das Personal dort zu schützen. Die Politik muss dringend einen Kulturwand­el befördern, damit man wieder begreift, dass diese Menschen Retter und Helfer sind.

Warum wenden Sie sich gegen eine medizinisc­he Bestimmung des Alters bei Flüchtling­en mit ungeklärte­r Identität?

MONTGOMERY Schon heute ist es möglich, das Alter von Straftäter­n nach richterlic­her Anordnung zu bestimmen. Wobei eine exakte Ermittlung nicht möglich ist. Wir Ärzte wehren uns aber dagegen, dass bei allen unbegleite­ten minderjähr­igen Flüchtling­en im Jugendlich­en-Alter durch Röntgenunt­ersuchunge­n oder Untersuchu­ngen der Genitalien eine pseudogena­ue Altersbest­immung vorgenomme­n wird. Da stehen wir im Einklang mit der UNKinderre­chtskonven­tion. Die Untersuchu­ng der Genitalien ist mit Rücksicht auf die Psyche und die kulturelle Herkunft der Jugendlich­en abzulehnen. Die Röntgenunt­ersuchunge­n sind angesichts des in Deutschlan­d verankerte­n Prinzips der Vermeidung von Strahlen grundsätzl­ich abzulehnen. EVA QUADBECK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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