Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das toxische „Turbo-Abitur“
DÜSSELDORF Abitur nach acht oder neun Jahren am Gymnasium? G8 oder G9 also? Scheinbar eine einfache Frage, die die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen nun beantworten müssen – scheinbar. Denn wer die Schulleiter fragt, der erfährt, wie kompliziert die Gemengelage ist. Das Meinungsbild, das unsere Umfrage bei knapp 150 Gymnasien zwischen Remscheid, Erkelenz und Kleve eingeholt hat, fällt deshalb differenziert aus und enthält auch einige Ungereimtheiten. Etwa die Hälfte der Schulen hat geantwortet. Die einzelnen Gruppen Klarer Trend in den Schulgemeinden: Während Lehrer und Eltern sich mehr oder weniger eindeutig eine Rückkehr zum neunjährigen System wünschen, ist es bei den Schülern komplizierter. „In etwa 50:50“sei das Meinungsbild der Schüler, berichtet etwa Hans van Stephoudt vom Gymnasium Adolfinum in Moers. Sein Kollege Horst Knoblich vom KonradHeresbach-Gymnasium in Mettmann sieht „in der Schülerschaft stellenweise Tendenzen zur Indifferenz“. Die Fähigkeit zu abgewogenem Urteil attestiert Karen Schneider vom Konrad-DudenGymnasium in Wesel ihren Schülern: „Sie finden das für die nachfolgenden Schülergenerationen begrüßenswert, stecken aber selbst im G8-Bildungsgang und kommen damit gut zurecht.“Ein verzweifeltes Aufbegehren der Schülerschaft gegen das Joch des „Turbo-Abiturs“, wie es G9-Anhänger manchmal darstellen, lässt sich jedenfalls aus den Antworten nicht belegen. Die Emotionen Viele Schulleiter freuen sich auf G 9. „Wir werden es (zum Beispiel durch unsere Begabungsförderung) schaffen, dass unseren künftigen Schülern auch bei einem neunjährigen Schulbesuch nicht langweilig wird“, verspricht etwa Stephan Döring vom Gertrud-Bäumer-Gymnasium in Remscheid: „Wir machen dann aus sehr guten Schülern eben hervorragende.“Bei manchem anderen klingt dagegen Bitterkeit durch – von „resignativem Prag- matismus“der Kollegen spricht Thomas Nett vom Theodor-Heuss-Gymnasium in Dinslaken: Man habe viel Arbeit investiert, damit das G8-System funktioniere, jetzt müsse man viel Arbeit in die Umstellung investieren. In Sarkasmus flüchtet Stephan Wippermann-Janda vom Konrad-Adenauer-Gymnasium in Langenfeld: „G8 war ja am Ende auch schon schuld am schlechten Wetter und an ungewollten Schwangerschaften.“Eine Kollegin vom Niederrhein beklagt eine „gelinde gesagt hysterisierte Argumentation gegen G8“. „Hier geht dem System Schule viel Kraft, Geld und Zeit verloren, die an anderer Stelle viel nötiger wären“, schimpft Michael Anger vom Nikolaus-Ehlen-Gymnasium in Velbert, fügt aber hinzu: „Ich berate klar in Richtung G9. Unsicherheit bei der Beratung führt zu Verunsicherung.“So heftig der Streit war, so massiv ist jetzt die Welle pro G9. Mit der Positionierung von Ministerin Yvonne Gebauer (FDP), die zweite Fremdsprache erst wieder in Klasse 7 einsetzen zu lassen, dürfte sich dieser Sog noch verstärken. Die Springer Auch wenn sich fast niemand der Strömung hin zu G9 entgegenstellen kann oder will: Möglichkeiten, das Gymnasium in acht Jahren zu absolvieren, wünschen sich viele Schulleiter. Derzeit können Schüler eine Klasse überspringen, wenn die unterrichtenden Lehrer zustimmen. Eine Reihe von Schulen bereitet sich schon auf feste Wege zum Überspringen vor – so will das Erzbischöfliche Gymnasium Marienberg in Neuss sein Modell aus alten G9-Zeiten wiederbeleben, wonach Schnelllerner vom ersten Halbjahr der Klasse 10 ins zweite Halbjahr der Klasse 11 springen konnten.
Dass die Entscheidung für G9 für viele Schulen so leicht ist, liegt auch daran, dass eine Entscheidung für G8 erstens schwer herbeizuführen ist (zwei Drittel plus eine Stimme in der Schulkonferenz) und zweitens vielerorts als Gefahr empfunden würde. Es gibt durchaus eine Reihe von Schulleitern, die eine aus G8- und G9Gymnasien gemischte Schullandschaft