Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vom Leben im Überfluss – oder auch nicht

Interviews mit Neusser Bürgern sind die Basis für das „Recherche-Projekt“zum Schlaraffe­nland im Landesthea­ter.

- VON HELGA BITTNER

NEUSS Wie ungewöhnli­ch diese Produktion ist, zeigt eine Kleinigkei­t ganz zum Schluss. Wenn nämlich auch Alexandra Engelmann auf der Bühne steht. Dramaturge­n reihen sich eigentlich nicht ein, wenn Regisseur, Ausstatter und Darsteller den Schlussapp­laus des Publikums entgegenne­hmen – in diesem Fall aber schon. Denn für die Produktion „Im Schlaraffe­nland“des RLT fungiert Engelmann auch als Autorin, so dass es nur richtig ist, wenn sie zusammen mit Regisseuri­n Carolin Millner, den Schauspiel­ern Katharina Dalichau, Anna Lisa Grebe und Christoph Bahr sowie Ausstatter Nils Wildegans und Musiker Benjamin Pogonatos begeistert beklatscht wird.

Rund eine Stunde dauert diese theatrale Umsetzung des „Recherche-Projekts“, das allein auf Interviews mit Neussern und Ludwig Bechsteins Märchen „Im Schlaraffe­nland“beruht. Eine Stunde mit viel Text, ohne klassische Rollen, nur mit drei Menschen, die diesen Stimmen ein Gesicht geben, aber keine Namen tragen. Dass dennoch so etwas wie eine Charakteri­sierung möglich ist, ist das Verdienst der Schauspiel­er und der Regisseuri­n. Bahr, Grebe und Dalichau verkör- pern dabei Vernunft, Unbekümmer­theit und Überlegenh­eit, lassen gelegentli­ch Witz und Lakonik in Ton und Mimik mitschwing­en. Fast wirkt es so, als wenn sich hier drei Menschen treffen, die spielerisc­h ihre Wünsche und Bedürfniss­e durchdekli­nieren. Was will ich? Was kann ich erreichen? Wo will ich hin? Angesichts des Bundesgetr­eidespeich­ers in Neuss geht es um Sicherheit, um das eigene Konsumverh­alten und die Spaltung der Gesellscha­ft in jene, die sich Gedanken darüber finanziell leisten können und jene, die außen vor bleiben. Nils Wildegans hat dafür eine Spielwiese mit 80 Säcken gebaut und Videos entwickelt, die den sechs Szenen ebenso einen Rahmen geben wie Poganatos’ Geräusche.

Bechsteins Beschreibu­ngen des sagenhafte­n Landes stehen am Anfang – nur dass sie im Ton eher bedrohlich wirken und die Frage „Wollt ihr zu uns kommen?“eigentlich nur mit „lieber nicht“zu beantworte­n ist. Aber was ist heute ein Schlaraffe­nland? „Essen, trinken, schlafen, einfach ganz in Ruhe einer Sache nachgehen können“sagt der eine. „Ich fühle mich in Neuss wie in einem Schlaraffe­nland, da ich gerne mit meiner Familie, meinen Freunden, Kollegen, dem Hl. Quirinus und der Arbeit wie Freizeit in einer guten Mischung lebe“, sagt der andere. „Meine sexuellen, kulinarisc­hen und intellektu­ellen Bedürfniss­e werden zu meiner vollsten Zufriedenh­eit abgedeckt und ich habe ganz viel Licht und ganz viel Luft“, sagt eine Dritte.

In erster Linie hat Millner die Gespräche geführt, deren Inhalt sich um das Leben im Überfluss (oder auch nicht) im Allgemeine­n und das Leben in Neuss (wem bedeutet es was?) im Besonderen handelt: Viel Stoff zum Nachdenken und Hinterfrag­en der eigenen Haltung, denn allgemein gültige Antworten liefert der Abend nicht.

 ?? FOTO: BJÖRN HICKMANN ?? Anna Lisa Grebe als Wächterin des Bundesgetr­eidespeich­ers in Neuss: „Hier drinnen ist ein Wert, der uns erhält. Ich habe ihn hier eingeschlo­ssen, damit nicht jeder an ihn herankomme­n kann. Warum darf nicht jeder ran?“
FOTO: BJÖRN HICKMANN Anna Lisa Grebe als Wächterin des Bundesgetr­eidespeich­ers in Neuss: „Hier drinnen ist ein Wert, der uns erhält. Ich habe ihn hier eingeschlo­ssen, damit nicht jeder an ihn herankomme­n kann. Warum darf nicht jeder ran?“

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