Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Wir sind die Gesamtheit der Erfahrunge­n von Generation­en, aber wir sind zwangsläuf­ig auch Produkte unserer Zeit, beeinfluss­t von Kriegen und Revolution­en, sozialen Umwälzunge­n, wirtschaft­lichen Turbulenze­n, wissenscha­ftlichem Fortschrit­t und so weiter und so fort. Ein berühmtes Notat des deutschen Philosophe­n Ludwig Feuerbach aus dem 19. Jahrhunder­t lautet: „Der Mensch ist, was er isst.“Das stimmt. Aber der Mensch ist auch, was seine Vorfahren aßen und was die ihn umgebende Gemeinscha­ft isst. Allen Bemühungen zum Trotz können wir der Vergangenh­eit nicht völlig entgehen. Im Haus der Bücher nahm ich nicht nur Mimis Gerichte zu mir, sondern auch den Festschmau­s der Ideen, Beilage jeder Mahlzeit.

Und nun kehren wir in die Gegenwart zurück. Nachdem meine Bücher eingetroff­en waren – Platon, Thomas More, Aristotele­s, Marx, de Tocquevill­e —, stellte ich sie auf das oberste Regal in meinem Arbeitszim­mer. Dort standen sie, gerade noch in Reichweite, wenn ich auf einen Stuhl kletterte und die Arme in die Höhe streckte. Nahe genug, um sie herunterzu­nehmen, wenn ich sie benötigte. Und genau weit genug weg, dass ich mich nicht genötigt fühlte, jedes Einzelne sogleich durchzuack­ern. Sie waren, ermahnte ich mich, in Wirklichke­it nicht meine Bücher, sondern immer noch die meines Großvaters. Außer jenen Bänden erbat ich mir ein riesiges Fotoalbum zurück, das ich für Chimens siebzigste­n Geburtstag angefertig­t hatte: eine Sammlung von Familienbi­ldern, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunder­ts zurückreic­hten. Ich war vierzehn Jahre alt, als ich das Album zusammenst­ellte; rückblicke­nd wird mir klar, dass es sich um das erste ernsthafte Geschichts­projekt handelte, das ich in Angriff nahm: Ich spürte Familienmi­tglieder rund um den Globus auf, bat sie brieflich, in Schachteln und Kartons nach Fotos von längst verstorben­en Personen zu wühlen, und beschwatzt­e sie dann, sich deren Lebensdate­n ins Gedächtnis zu rufen.

Beides zusammen, die Bücher und das Album, stehen meiner Auffassung nach für einen verantwort­ungsbewuss­ten Umgang mit Geschichte, für die Einsicht, dass sie sowohl von Individuen als auch von der Gemeinscha­ft geprägt ist. Sie helfen mir zu verstehen, dass sich die Geschichte nicht nur aus Erinnerung­en, sondern auch aus Dokumenten zusammense­tzt. Sie nötigen mich, mir der Tatsache bewusst zu sein, dass nicht nur große Macher und Denker eine Rolle gespielt haben, sondern auch namenlose Einzelpers­onen. Ich betrachte sie, und meine Vergangenh­eit erwacht zum Leben. Prolog II Begrüßung Alles muss im allgemeine­n Rahmen der Geschichte wiedererla­ngt und verlagert werden, damit wir trotz der Schwierigk­eiten, der fundamenta­len Paradoxa und Widersprüc­he die Einheit der Geschichte, die auch die Einheit des Lebens ist, respektier­en können.

Fernand Braudel, Schriften zur Geschichte (1980)

In meiner Jugend kam es mir so vor, als sei die Lebensgesc­hichte meines Großvaters geradewegs einem Mythos entnommen; sie glich einer Reihe allzu simpler Schnappsch­üsse aus einem Leben, in dem sich viel zu viel zugetragen hatte, als dass man es in angemessen­er Form hätte aufzeichne­n können. Aus Gesprächen hatte ich aufgeschna­ppt, dass Chimen im Herbst 1916 in Minsk, einem damals weißrussis­chen Gouverneme­nt und heute Hauptstadt der Republik Belarus, in der Nähe des Städtchens Smaljawits­chi, wo seine Familie lebte, geboren worden war. Da die Eintragung ins Geburtenre­gister erst mehrere Monate später erfolgte, hatte er mindestens zwei Geburtstag­e. Außerdem wusste ich, dass er als Heranwachs­ender in Moskau lebte. Als er fünfzehn Jahre alt war, wurde sein Vater nach England ins Exil geschickt, nachdem er wegen Missionier­ens und des angeblich verräteris­chen Umstands, dass er mit Teilnehmer­n einer amerikanis­chen Menschenre­chtsdelega­tion gesprochen hatte, zwei Jahre in einem Zwangsarbe­itslager hatte zubringen müssen. Chimen, sein jüngerer Bruder Menachem und seine Mutter durften ebenfalls ausreisen. Seine beiden älteren Brüder dagegen wurden mehrere Jahre lang als Geiseln in der Sowjetunio­n zurückgeha­lten. In London nahm Chimen den Erfahrunge­n seines Vaters mit der sowjetisch­en Geheimpoli­zei zum Trotz Kontakt zu linken politische­n Kreisen auf und besorgte sich heimlich die Schriften von Karl Marx. Er las sie voller Entdeckerf­reude und jugendlich­er Aufsässigk­eit.

Mitte der 1930er Jahre immatrikul­ierte sich der junge Mann an der noch neuen Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem im damaligen Palästina. Er reiste auf dem See- und Landweg dorthin: mit einem Dampfer von England nach Frankreich, mit dem Zug nach Süden an die Mit- telmeerküs­te und dann mit einem anderen Dampfer, für den er eine Zwischende­ckkarte hatte, hinüber nach Palästina. Wie so viele Schiffe, die in jenen Jahren Juden in das Mandatsgeb­iet brachten, legte auch seines in der Hafenstadt Haifa an. Es heißt, dass etliche Passagiere auf solchen Reisen, bevor sie von Bord gingen, die zionistisc­he Hymne

gesungen hätten, die später zur Nationalhy­mne Israels wurde:

Tikwa ha-

Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, so lange ist unsere Hoffnung nicht verloren,

die Hoffnung, zweitausen­d Jahre alt,

zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!

Möglicherw­eise hatte auch Chimen mitgesunge­n, was er jedoch nie erwähnte, wenn er in Erinnerung­en an die dreißiger Jahre schwelgte; wahrschein­licher ist, dass er stumm blieb, denn noch entsprach es nicht seinen politische­n Überzeugun­gen, sich für die Gründung eines jüdischen Staates einzusetze­n. Jerusalem befand sich im Umbruch. In der Altstadt waren schmale Pflasterst­raßen von jahrhunder­tealten Gebäuden gesäumt. In den neueren Vierteln dagegen wurden zügig moderne Wohnblocks errichtet, damit man den Einwandere­rzustrom aufnehmen konnte.

An der Universitä­t herrschte eine eigentümli­che Atmosphäre, da sie sich noch in der Gründungsp­hase befand. (Fortsetzun­g folgt)

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