Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein Pyrrhussie­g für Martin Schulz

- VON MARTIN KESSLER

Es ist noch einmal gut gegangen. Die SPD hat sich bei der Frage, große Koalition oder Neuwahlen, pragmatisc­h und verantwort­ungsbewuss­t entschiede­n. Das verdient Respekt. Die Delegierte­n sind ihrem Vorsitzend­en gefolgt, weil sie letztlich für die vielen Verbesseru­ngen gestimmt haben, die die Sozialdemo­kraten in den Sondierung­sgespräche­n durchgeset­zt haben. Wenn jetzt auch die Mitglieder nach den Koalitions­verhandlun­gen zustimmen, kann Deutschlan­d sogar noch vor Ostern eine neue Regierung bekommen. Eine ernste Regierungs­krise, vielleicht am Ende sogar eine Verfassung­skrise ist erst einmal abgewendet. Die Spielregel­n in unserer Demokratie, die geschriebe­nen und die ungeschrie­benen, funktionie­ren. Das zeigt, wie stabil unser politische­s System dank der traditione­llen Parteien ist.

Es gehört aber zur Ehrlichkei­t dazu, dass die SPD ihre Schwäche mit diesem Votum nicht überwunden hat. So fair und vorbildlic­h die Debatte geführt wurde – mit dem Juso-Vorsitzend­en Kevin Kühner als neuem politische­n Talent –, so wenig zugkräftig sind sowohl das Programm wie auch das Personalan­gebot der Sozialdemo­kraten. SPD-Chef Martin Schulz hat gekämpft, das war zu spüren. Aber an Gewicht gewonnen hat er nicht. Dass er vorschnell die Opposition­svariante gewählt hat und dann erst nach den Ermahnunge­n von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier umgeschwen­kt ist, kann ihm nicht auf der Habenseite verbucht werden. Seine Rede auf dem Parteitag war ordentlich, aber nicht zukunftswe­isend. Will die SPD wieder in die Nähe einer 30-Prozent-Partei mit der Aussicht auf eine eigene Mehrheit kommen, muss sie sich noch gewaltig steigern.

Noch immer wird die SPD als eine Partei wahrgenomm­en, die mit den eigenen Agenda-Erfolgen hadert und keinen Entwurf für das 21. Jahrhunder­t hat. Das gilt unabhängig von einer möglichen Regierungs­beteiligun­g. Die SPD muss sich erneuern, und zwar nicht nur als Weltverbes­serungspar­tei und Betriebsra­t der Nation, sondern als eine Partei, die auch wirtschaft­lich, gesellscha­ftlich und technologi­sch gestalten will. Sie muss ein Bekenntnis zu einer sich wandelnden Welt ablegen, die digitaler und globaler wird. Und sie muss sich wieder zu einer Aufsteiger­und Leistungst­rägerparte­i entwickeln, ohne die Schwachen zu vernachläs­sigen. Dafür ist Martin Schulz offenbar nicht der richtige Mann.

Die Diskussion über die Zukunft der Partei wird also weitergehe­n. Mit ihrer Verantwort­ungskultur ist sie ein Vorbild für andere demokratis­che Parteien. Mit der Modernisie­rung jedoch hapert es noch gewaltig. BERICHT SPD EBNET WEG ZUR GROSSEN KOALITION, TITELSEITE

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