Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Haus der 20.000 Bücher
Die Mussar-Schulen – kompromisslos, was Disziplin anging, entschlossen, einen Kader ethisch lauterer, frommer Schüler aufzubauen, der die jüdische Kultur im weiteren Sinne vor den verheerenden Einflüssen des Säkularismus schützen konnte – waren in vielerlei Hinsicht eine Gegenbewegung zur Moderne. Was ihren moralischen Fanatismus anging, hatten sie einiges gemein mit der Born-Again-Bewegung des amerikanischen Protestantismus im ausgehenden 20. Jahrhundert. Ihnen standen häufig Menschen vor, die einst von säkularen Texten und neumodischen wissenschaftlichen und philosophischen Ideen verlockt worden waren, um dann mit frischer Begeisterung zu der Religion und den Glaubenssystemen ihrer Vorväter zurückzukehren.
Yehezkel – zu Höherem berufen in dieser abgekapselten religiösen Welt, die ihn als Hoffnungsträger ansah – hatte seine Ausbildung nach der Mussar-Schule fortgesetzt und einige Zeit in Litauen bei dem legendären Gelehrten Chaim Soloweitschik studiert. Dieser war der Wegbereiter einer als Brisker Methode bekannt gewordenen Technik, die es Studenten ermöglichen sollte, Thora-Kommentare mithilfe der exakten Analyse von Schlüsselbegriffen in verschiedenen rabbinischen Debatten zu verstehen und auszuwerten. Die Brisker Lehren waren sehr anspruchsvoll und versetzten die besten Studenten in die Lage, ihr Dasein und ihre Gedanken als Bestandteil einer ununterbrochenen Folge jahrtausendealter jüdischer Erfahrungen zu begreifen. Männern wie Yehezkel dürfte dieses Bewusstsein geholfen haben, die Höhen und Tiefen des Lebens zu re- lativieren.
Soloweitschiks berühmte Jeschiwa in Slobodka war 1892 auf Anordnung der russischen Behörden geschlossen worden. Statt also dort dem Gruppenunterricht beizuwohnen, nahm Yehezkel Privatstunden bei Soloweitschik und dessen Söhnen und eignete sich Wissen an, das vorangegangene Studentengenerationen durch die (Vorlesungen) in den großen Sälen der Jeschiwa erhalten hatten. Daneben ließ sich Yehezkel von dem Wilnaer Rabbi Hayyim Ozer Grodzenski unterrichten. Noch hatte er sein Studium in Slobodka nicht abgeschlossen, als er von dem fast hundertjährigen Rabbi Yehiel-Mihel Epstein ins Rabbinat eingeführt wurde. Dieser hatte zahlreiche Pogrome und Umwälzungen miterlebt, von der Zeit kurz nach der Französischen Revolution bis hin zu den Attentaten der russischen Bombenwerfer Ende des 19. Jahrhunderts. Mit kaum achtzehn Jahren gehörte Yehezkel bereits zur Elite der osteuropäischen Rabbiner. Er zog weiter ins litauische Telz, das die anspruchsvollste der großen Jeschiwas beherbergte. Auf die strenge Aufnahmeprüfung über rabbinische Schriften folgten monatliche Examen; außerdem legte man großen Wert auf Manieren und Betragen. Der Abschluss der Jeschiwa von Telz entsprach einer Hochschulqualifikation. Außerdem erhielt er dort den letzten Schliff im Benehmen: Er lernte, wie er in der Öffentlichkeit aufzutreten hatte. An dieser Jeschiwa verbrachte Yehezkel zweieinhalb Jahre. Während der Hungersnöte, die mit dem russisch-japanischen Krieg von 1904/05 einhergingen, und der anschließenden Pogrome blieb ihm und seinen Kommilitonen nichts anderes übrig, als von Wasser und Brot zu le-
shiurim
ben.
Mithin waren Yehezkel Mangel und Verlust nicht fremd. Doch trotz seiner Ausbildung und seines Lebenslaufs, trotz seines Vermögens, das eigene Schicksal in den größeren Zusammenhang der allgemeinen und insbesondere der jüdischen Geschichte, der menschlichen Tragödie und des Strebens nach einem Verständnis Gottes zu stellen, muss es ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein, als er 1920 den Großteil seiner Bibliothek verlor. Gewiss, nach rabbinischer Überlieferung steigen die Worte aus verbrannten heiligen Büchern und Schriftrollen zum Himmel auf, aber gleichwohl dürfte Yehezkel ihren Verlust tief in seinem Herzen betrauert haben. Vielleicht lag es an diesem Brand – in den Folgejahren wurde immer wieder am Esstisch der Familie darüber gesprochen –, die in Chimen (der damals noch ein kleines Kind war) den Drang weckte, Bücher zu sammeln. Immerhin, zwei Dinge minderten den Schaden: Yehezkels Familie hatte den Brand überlebt, und sein Manuskript, sorgfältig von Hand geschrieben in eleganten hebräischen Buchstaben – die ersten Bände einer ausgedehnten Reihe von Kommentaren zu einem Sammelwerk mündlicher Überlieferungen namens Tosefta, die er über sechs Jahrzehnte hinweg verfassen und die den Titel
tragen sollten –, hatte er mit nach Minsk genommen. Dadurch war es dem Feuer entgangen.
Chimen schirmte sich sein ganzes Leben lang gegen die Flammen ab, indem er sich mit so vielen Büchern und so viel Wissen umgab, dass irgendetwas davon mit Sicherheit aus der Asche und dem Chaos der Geschichte gerettet werden würde. „Wenn es um Bücher ging“, meinte
Yehezkel Chazon
sein Freund Dovid Katz, ein Jiddisch-Experte, den Chimen kennengelernt hatte, als Katz sich 1976 zum Studium bei ihm einschrieb, „konnte es für Chimen weder Links noch Rechts, weder Gut noch Böse geben. Sie alle gehörten in jenen magischen Bereich des Lebens, den er beherrschte wie kein anderer. Wie er es liebte, darauf hinzuweisen, dass die Werke eines Rabbiners und eines radikalen Philosophen in demselben Regal standen und damit deutlich zu machen, dass das Bücherregal das wahre Reich menschlicher Harmonie ist.“
Mitte der 1970er besuchte uns ein Freund meiner Mutter aus Los Angeles und machte auch Chimen und Mimi seine Aufwartung. Er war Künstler und verewigte jenen Abend in einer schwarz-weißen Tuschzeichnung mit dem (aus unerfindlichen Gründen französischen) Titel
Maison Livres des Shimin Abramski [sic] Chimen Abramskys Haus der Bücher.
oder
Zu sehen war ein Haus, dessen Wände und sogar Decken – ein Anflug künstlerischer Übertreibung – ganz und gar aus Büchern bestanden und dessen Bewohner auf alten Stühlen an nicht abgeräumten Tischen saßen, eine Tasse Tee nach der anderen tranken und sich angeregt unterhielten.
Das von außen unauffällige Haus – mit seinen weiß verputzten Mauern, seinem Ziegeldach und seiner neben dem Schornstein aufragenden Fernsehantenne sah es aus wie eine der abertausend Doppelhaushälften, die man in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Nord-London gebaut hatte – war für mich eine Schule, eine Universität, eine Bücherei und ein Zufluchtsort, wenn ich es daheim einmal nicht mehr aushielt. (Fortsetzung folgt)