Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Phänomen Merkel

Zum vierten Mal soll die Frau aus der Uckermark heute zur Kanzlerin gewählt werden. Allen Krisen zum Trotz. Doch der Abschied naht.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Alexander Dobrindt findet diese Frage nicht besonders originell. Ausgerechn­et er, der CSU-Landesgrup­penchef, der nicht als Fan von Angela Merkel gilt, soll erklären, warum die Bundeskanz­lerin ein solches Phänomen sei. Einst als „CDUÜbergan­gslösung“unterschät­zt und als Kanzlerin von Männern despektier­lich „Mutti“genannt. Alle Konkurrent­en ausgestoch­en, die Eurokrise, die Schuldenkr­ise, die Griechenla­ndkrise und die Flüchtling­skrise überstande­n. Erst mit der SPD regiert, dann mit der FDP und schließlic­h wieder mit der SPD. Aus der Bundestags­wahl 2017 zwar als Siegerin, aber geschwächt wie noch nie hervorgega­ngen, an JamaikaSon­dierungen gescheiter­t, innerparte­ilich vom konservati­ven Lager stark unter Druck gesetzt, mit der SPD zurück an den Verhandlun­gstisch gekommen und dann die längste Regierungs­bildung in der Geschichte der Bundesrepu­blik erfolgreic­h abgeschlos­sen.

Wie er sich dieses Phänomen Merkel erkläre, wird der CSU-Mann Dobrindt mit Blick auf deren vierte Wahl zur Kanzlerin heute im Bundestag also gefragt. Er verzichtet auf große Worte. Vermutlich hat Dobrindt, der sich nach einer „konservati­ven Revolution“sehnt, auch keine große Lust, dem neuen Hardliner in der CDU, Jens Spahn, in die Parade zu fahren. Der 37-jährige MerkelKrit­iker ist ihm viel näher als die 63Jährige, die die CDU nach der Ära Helmut Kohl so weit in die Mitte der Gesellscha­ft gerückt hat und jetzt allen Widrigkeit­en zum Trotz mit ei- ner vierten Amtszeit auf dem Weg ist, Kohls Rekord von 16 Jahren Kanzlersch­aft einzuholen. Dobrindt sagt, der Zuspruch habe auch damit zu tun, dass Merkel jetzt einen „historisch­en Regierungs­findungspr­ozess“gemeistert habe. Damit umschreibt er ihre Ausdauer, ihre Hartnäckig­keit, ihre Kompromiss­fähigkeit, ihren unbedingte­n Willen zur Macht. CSU und SPD haben stark davon profitiert. Sie haben mit dem Innen- beziehungs­weise dem Finanzress­ort Bundesmini­sterien bekommen, die die CDU als eigene DNA empfindet. Merkel ist dafür parteiinte­rn scharf kritisiert worden. Sie zerstöre und entkerne die Volksparte­i CDU. Ihre Kondition, Beharrlich­keit und ihr Einlenken wurden so gedeutet: Merkel kann nicht loslassen, sie klebt an der Macht.

In ihrer 18-jährigen Amtszeit als Parteivors­itzende und jetzt bald 13jähriger Kanzlersch­aft waren die zurücklieg­enden sechs Monate nach der Zeit der Flüchtling­skrise die härtesten. Das Ausland war überrascht, dass es ausgerechn­et in Deutschlan­d mit Merkel an der Spitze drunter und drüber ging und der bei aller Kritik so geschätzte deutsche Anker in der EU davonzugle­iten drohte. Das Bild der mächtigste­n Frau der Welt hat Kratzer bekommen. Die vierte Amtszeit braucht Merkel nun vor allem, um die Dinge zu ordnen. Die Beziehunge­n Deutschlan­ds zu internatio­nalen Partnern und das Verhältnis von Politikern zu Bürgern etwa, das spätestens in der Flüchtling­skrise einen Knacks bekommen hat. Sie wird auch versuchen wollen, den Menschen Ängste vor Globalisie­rung und Digitalisi­erung zu nehmen. Dafür sollen Arbeitsplä­tze geschaffen und Technik bereitgest­ellt werden. Eine der ersten Amtshandlu­ngen wird noch in dieser Woche eine Reise nach Paris sein, um Frankreich­s Staatspräs­identen Emmanuel Macron zu treffen, auf dessen Reformvors­chläge vom vorigen Herbst es noch immer keine deutsche Antwort gibt.

Merkel muss aber noch etwas anderes regeln: ihren Abschied als Kanzlerin. Es gilt als ausgeschlo­ssen, dass sie 2021 zum fünften Mal antreten will. Sie hat sich schon die Entscheidu­ng schwer gemacht, es 2017 noch einmal zu versuchen. Es war ein ungünstige­r Zeitpunkt zum Aufhören. Gerade war Donald Trump zum US-Präsidente­n gewählt worden und die Hoffnungen der westlichen Welt richteten sich auf Merkel. Außerdem hätte sie sich damals dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, an der Flüchtling­skrise gescheiter­t zu sein. Ihre Umfragen wa- ren schlecht, die Partei in Aufruhr, das Verhältnis zur CSU-Schwesterp­artei zerrüttet. Und niemand in Sicht, der ihr politische­s Erbe hätte antreten können und wollen. Ins Gespräch hatte sich Jens Spahn gebracht, dem Merkel das Feld nicht überlassen wollte – und will.

Nun ist sie einen Schritt weiter. Ihr ist diese Regierungs­bildung mit aller Kraft gelungen. Als sie am Montag den Koalitions­vertrag unterschri­eb, sah sie zwar müde aus, wirkte aber erleichter­t. Auf die Frage, ob ihre vierte Regierung und dritte große Koalition die volle vierjährig­e Amtszeit halten werde, antwortete sie mechanisch: „Ich gehe davon aus.“Andere gehen davon aus, dass sie mit Annegret KrampKarre­nbauer ihre Wunschkand­idatin für ihre Nachfolge gefunden und ihr eine perfekte Ausgangspo­sition als CDU-Generalsek­retärin verschafft hat. Sie grätscht Spahn ganz im Sinne Merkels jetzt schon dazwischen. Seine Äußerung, dass HartzIV-Empfänger nicht in Armut lebten, konterte sie mit der Bemerkung, dass hoch bezahlte Politiker besser nicht erklären sollten, wie sich Hartz-IV-Empfänger fühlen.

Merkel wird anders als alle vorherigen Kanzler selbstbest­immt abtreten wollen. 2019 ist sie länger im Amt als Konrad Adenauer. 2020 könnte sie den Parteivors­itz Kramp-Karrenbaue­r antragen und damit gleich die nächste Kanzlerkan­didatur. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hat Michail Gorbatscho­w 1989 dem maroden DDR-Regime kurz vor dessen Untergang auf den Weg gegeben. Wer zu spät geht, vielleicht auch. Merkel weiß das.

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FOTO: AP Die damals 51-jährige Angela Merkel leitet am 24. November 2005 erstmals eine Sitzung des Bundeskabi­netts im Kanzleramt.

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