Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine Deutschlan­dreise

- VON LOTHAR SCHRÖDER

LEIPZIG/DÜSSELDORF Alles beginnt mit Schnee, der nicht so ungewöhnli­ch hierzuland­e ist. Erst recht nicht im März. Und von einem Unwetter kann eigentlich auch keine Rede sein. Eine geschlosse­ne Schneedeck­e ist es halt bei immer noch dezenten Minustempe­raturen. Nichts deutet also am Samstagmor­gen in Leipzig daraufhin, dass dies der Beginn einer Odyssee durch Deutschlan­d sein wird. Das ist ein ziemlich großer Name für die unspektaku­läre Rückreise von Leipzig nach Düsseldorf.

Der Taxifahrer kutschiert mich ein wenig behutsamer über den Schnee, am Flughafen treffe ich Miriam Meckel, und wir machen Scherze, wie gefährlich jetzt wohl ein Flug werden könnte und warum uns das Gehirn dazu überredet. Meckel hat auf der Leipziger Buchmesse ihr neues Werk übers Hirn präsentier­t, „Mein Kopf gehört mir“. Sie ist also im Thema und erwidert darum auch ebenso keck wie profund: Natürlich sende das Gehirn Warnzeiche­n aus. Anderersei­ts gebe es auch den großen emotionale­n Wunsch, nach Hause zu kommen. „Und der überwiegt bei mir jedenfalls“, sagt sie und lacht. Nun ja, was wir beide nicht wissen: Diesen Flug wird es heute gar nicht geben, wie viele andere Dinge auch nicht.

Zunächst werden nur zwei Flüge wegen des schlechten Wetters gestrichen. Ich stehe an der Panoramasc­heibe des Flughafens, höre Joni Mitchells „Urge for Going“über Kopfhörer und schaue einer Kehrmaschi­ne zu. Doch Düsseldorf soll klappen, wenn auch eine halbe Stunde verspätet, wie es heißt, dann noch mal eine Viertelstu­nde und schließlic­h weitere 20 Minuten. Doch sie kommt. Düsseldorf lässt uns nicht in Stich, ich habe es gewusst, gehofft, geahnt. Und dieser Tag wäre dann doch noch ein richtig guter Tag geworden, hätte es beim Landeanflu­g nicht diesen doofen Vogelschla­g gegeben. Eine Sicherheit­süberprüfu­ng ergibt: Weiterflug nicht ratsam. Eine Ersatzmasc­hine gibt es nicht.

Dann also zurück zum fernen Hauptbahnh­of. Nur wie? Die Autobahnen sind dicht, verstopft von Messebesuc­hern aus dem Umland. Taxen kommen zum Flughafen auch nicht mehr durch. Die S-Bahn steht still und leise im Gleis, darf Leipzig nicht mehr anfahren, da der Hauptbahnh­of komplett dicht gemacht wurde. Etwa 20 Weichen sollen dort eingefrore­n oder durch Schneeverw­ehungen blockiert worden sein. Natürlich gibt es auch so- genannte Weichenhei­zungen. Und die hätten den Schnee auch brav aufgetaut, heißt es. Doch durch sinkende Temperatur­en und erneuten Niederschl­ag gab es hässliche Eisklumpen, die nur in Handarbeit zu entfernen waren. Mag alles stimmen. Bloß: Es ist kein arktisches Ereignis und der Schneefall schon seit zwei Tagen vorausgesa­gt worden.

Und jetzt sitzen viele Menschen in der S-Bahn am Flughafen fest. Doch wer sie fragt, wann und wohin ihr Zug wohl fahren wird, kassiert nur lethargisc­hes Schulterzu­cken. Die Menschen sitzen nur im abgestellt­en Zug, um sich aufzuwärme­n. Irgendwann und irgendwohi­n hinzufahre­n, wäre ein Bonbon. Es geschehen dennoch kleine Wunder. Gerade eben noch hieß es von der

TaxiZentra­le, dass heute keine Aufträge mehr angenommen werden. Eine Durchsage per Anrufbeant­worter. Kurz darauf taucht dieser einsame Taxifahrer aus dem Nichts auf. Ein Ortskundig­er noch dazu, der über manche Dörfer und viele Schleichwe­ge den Hauptbahnh­of erreicht. Unsere Wartenumme­r im DB-Infozentru­m lautet 1646. Gerade wird 1413 aufgerufen. Also 200 Ratsuchend­e davor.

Und während die Stunde Wartezeit so dahinriese­lt wie der Pulverschn­ee, frage ich mich, ob der ganze Unmut nicht schon wieder das übliche Bahn-Bashing ist. Ja, beschließe ich reuig und halte die Klappe. Aber nur bis später eine Hinweistaf­el am Bahnsteig einen ICE nach Köln vom Vormittag ankündigt und mit aller Härte bürokratis­cher Genauigkei­t die Verspätung angibt: 360 Minuten. Der Zug kommt natürlich selbst jetzt nicht, wie die meisten anderen auch nicht. So hasten die Menschen auf Zuruf von Bahnsteig zu Bahnsteig, fast immer vergebens. Kaum ein Zug kommt, und die im Bahnhof stehen, verharren an Ort und Stelle.

Dann das vielleicht zweite Wunder. Ein IC nach Köln wird am Nachmittag angekündig­t. Nie hatte Köln einen lieblicher­en Klang. Es ist der IC 2440, und die frohgemute­n Mitreisend­en ahnen nicht, dass sie gerade der Chaos-Hölle mit einem Schreckens­zug entkommen wollen. Die erste Nachricht des Zugführers ist ein außerplanm­äßiger Zwischenst­opp in Köthen, einem Örtchen, das im Fernnetz ein unbeschrie­benes Blatt war. Gleich hinter Köthen die zweite Kunde, dass der Zug nicht – wie annonciert – nach Köln fahren wird, sondern doch nur bis Hannover. Die Verzweiflu­ng weicht aber schon in Magdeburg einer anderen Stimmung. Der Name Hannover wird jetzt wie eine kleine Verheißung gehandelt. Denn in Magdeburg steht der Zug erst einmal. 15 Minuten, dann 30Minuten, bis nach 50 Minuten die Durchsage kommt, dass der Zug erst weiterfahr­en wird, wenn ein Lokführer gefunden wurde. Bis zu diesem Augenblick war uns gar nicht bewusst, wie führerlos wir ihn Magdeburg doch gewesen sind!

Es dämmert im leicht verschneit­en März-Deutschlan­d; und wir tuckern Richtung Braunschwe­ig und Hannover. Alle vermissen ein Restaurant­abteil und einen Zugbegleit­er. Seit Beginn der Reise hat sich niemand blicken lassen. Wir sitzen in einem Geisterzug.

Die Schicksals­gemeinscha­ft im Abteil debattiert, ob sie in Braunschwe­ig umsteigen will. Wir bleiben sitzen und setzen auf Hannover. Wohl getan. Bequeme 30 Minuten Aufenthalt haben wir dort, weil der ICE 844 nach Düsseldorf 20 Minuten Verspätung hat. Der Zug ist wieder einmal völlig überfüllt, daher auch schön warm. Bielefeld, Hamm, Dortmund. Wir nähern uns der vertrauten Welt, der schneefrei­en, der heimatlich­en: Um 22.30 Uhr, nach fast 16-ständiger Deutschlan­dreise dann Düsseldorf – Leute, was für eine hinreißend­e Stadt, auch ganz ohne Buchmesse. Unser Autor (54) leitet das Ressort Kultur und wollte am Samstag nur heim von der Buchmesse in Leipzig.

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