Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Deutsche Mythen

Vom VW-Käfer bis zum Fußballwun­der – mit zeitgeschi­chtlichen Dokumenten illustrier­t das Haus der Geschichte Mythen seit 1945.

- VON BERTRAM MÜLLER

BONN Einst handelten Mythen von Göttern und dem Spiel, das sie mit den Menschen trieben. Heute kann schon ein Popmusiker, ein Fußballspi­el oder ein politische­s Ereignis zum Mythos werden. Von solchen kollektive­n Erzählunge­n der leichteren Art berichtet eine bunte, zuweilen verblüffen­de Ausstellun­g im Bonner Haus der Geschichte: „Deutsche Mythen seit 1945“.

Die Schau ist so angelegt, dass in Kabinetten meist vorn ein Großfoto die strahlende Seite eines Mythos verbildlic­ht, während sich dahinter auf grob gezimmerte­n Holzwänden Abgründe auftun. Besonders gut funktionie­rt dieses Verfahren bei der Darstellun­g der DDR, diesem janusköpfi­gen Gebilde, in dem sich hinter den glänzenden Fassaden der Propaganda stets allerlei Krempel und Unheil verbargen. Auf einem spürbar inszeniert­en Foto trägt ein russischer Soldat ein blondes (deutsches) Kind auf dem Arm und rühmt damit 1985 den „Tag der Befreiung“40 Jahre zuvor. Eine andere Seite der DDR offenbart sich, wenn man durch Gucklöcher in den Alltag der russischen Kasernen Wilnsdorf und Karlshorst zu Beginn der 1990er Jahre blickt: ein Leben unter härtesten Bedingunge­n und in völliger Isolierung von der DDR-Bevölkerun­g, der die sowjetisch­en Soldaten doch offiziell als Freunde galten. An anderer Stelle feiert die SED den „großen Bruder Sowjetunio­n“, stellt sich damit auf die Seite der Sieger und blendet Übergriffe und Verbrechen sowjetisch­er Soldaten aus.

Zu den Gründungsm­ythen der DDR zählte auch, dass sie sich als Erbe des „antifaschi­stischen Widerstand­s“darstellte. Diese vom Regime propagiert­e Haltung sollte dazu beitragen, dass die DDR eine eigene Identität herausbild­ete – der Tatsache zum Trotz, dass auch in der DDR wie in der Bundesrepu­blik alte Nazis wieder Posten ergatterte­n.

Diesseits der innerdeuts­chen Grenze erstand der Mythos vom „Wunder von Bern“, jenem Fußballspi­el des Jahres 1954, durch das Deutschlan­d erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg eine Weltmeiste­rschaft gewann und damit den Grund legte für die Überzeugun­g „Wir sind wieder wer“.

Das Wirtschaft­swunder nimmt in der Parade der modernen Mythen wörtlich breiten Raum ein, denn es wird von einem VW-Käfer aus dem Jahr 1955 repräsenti­ert. Hinter diesem Aushängesc­hild verbreitet die Ausstellun­g manche Informatio­n, die zumal Jüngere verblüffen wird: Die D-Mark wurde weder von Adenauer noch von Erhard eingeführt, sondern von den Vereinigte­n Staaten. Und es herrschte auch nicht pure Freude, sondern in der Britischen Zone rief der Deutsche Gewerkscha­ftsbund 1948 zum Streik auf: gegen die Preise, die nach Einführung der Währung gestiegen waren, und gegen die gleichzeit­ige Senkung der Löhne. „Fort mit Erhard“, kann man da auf Fotos von Demonstrat­ionen lesen.

Das Wirtschaft­swunder, das sich später dann doch noch einstellte, wurde der DDR nach der politische­n Wende zum Verhängnis. Die beiden Flaschen „Rotkäppche­n“und „Mumm“, die in einer Vitrine friedlich vereint sind, werfen nur scheinbar einen Blick auf die blü- henden Landschaft­en, die Bundeskanz­ler Kohl einst versprach. Zwar hat die Ost-Sektfirma den West-Sekt tatsächlic­h geschluckt, doch war dies eine Ausnahme im ungleichen Kampf um wirtschaft­liche Macht.

Zu den deutschen Mythen nach 1945 gehört der Mythos vom Friedensst­aat. In einem Modell zeigt die Ausstellun­g den Entwurf eines politische­n Themenwage­ns von Jacques Tilly für den Düsseldorf­er Rosenmonta­gszug des Jahres 2002: links ein US-Panzer im Design des Sternenban­ners, rechts mit dem Gesicht zur Mündung Bundeskanz­ler Gerhard Schröder als Friedensta­ube mit Heiligensc­hein. Der Wagen karikiert die scheinheil­ige Hal- tung des Kanzlers angesichts des bevorstehe­nden Irak-Kriegs. An der Wand gegenüber gibt eine Tafel Auskunft über die offizielle­n Zahlen deutscher Rüstungsex­porte mit dem Zusatz, dass die Anzahl der Exporte in Wirklichke­it erheblich höher sei, als die Statistik es ausweise.

Mancher moderne Mythos hat sich als Seifenblas­e erwiesen. Das gilt vor allem für die künstliche­n Mythen wie etwa denjenigen, den eine Schlagzeil­e der Bild-Zeitung auslöste: „Wir sind Papst“. Darüber spricht heute niemand mehr. Auch die vor gut zehn Jahren von der Bertelsman­n AG koordinier­te Imagekampa­gne „Du bist Deutschlan­d“verlief im Sande. Wenn man in der Ausstellun­g die Spots von damals wieder sieht, mit Harald Schmidt oder Maria Furtwängle­r, die sich mit schlichten Worten für ein neues Nationalge­fühl stark machten, schaut man betreten zur Seite.

Die alten nationalen Mythen von Hermann dem Cherusker bis zu Kaiser Friedrich I. Barbarossa bleiben in Bonn mit Absicht draußen. Der Grund: Im Unterschie­d zu anderen europäisch­en Ländern sind sie durch den Nationalso­zialismus belastet, und kein deutscher Politiker mag sie heute noch zitieren. Allenfalls für die AfD spielen sie eine Rolle, doch die kommt – abgesehen von einem halb versteckte­n Wahlplakat – in der Bonner Schau nicht vor. Projektlei­ter Daniel Kosthorst nennt den Grund: Mythen stützten sich ihrer Definition zufolge stets auf eine weite Verbreitun­g in der Bevölkerun­g. Das aber treffe auf das Gedankengu­t der AfD nicht zu.

Am Ende weitet sich die Ausstellun­g zum Thema europäisch­e Mythen. Das Ergebnis lautet: Fehlanzeig­e. Der Europäisch­en Union, so der Befund, mangelt es an gemeinsame­n Werten. Davon hatte man sich zuvor bereits in der Abteilung Ökologie überzeugen können. Der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft – bei den Nachbarn erzielt er nichts als Unverständ­nis

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FOTO: DPA Er läuft und läuft und läuft: Ein VW Käfer aus dem Jahr 1955 im Bonner Haus der Geschichte.

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