Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Sie wurde von sechstause­nd politisch engagierte­n russischen Juden – Männern wie Frauen – unterzeich­net, die sich in den Jahren zuvor einer Vielzahl politische­r Vereine, Parteien und Untergrund­organisati­onen angeschlos­sen hatten.

In mancher Hinsicht waren jene Juden, die ein reges Denkvermög­en mit revolution­ären politische­n Überzeugun­gen verbanden, ebenfalls Chimen, der im Herbst 1916, in den letzten Monaten der zaristisch­en Herrschaft, geboren wurde, war einer von ihnen. Mimis und sein Haus war in den fünfziger Jahren zu einer Art weltlicher Jeschiwa geworden, in die Studenten kamen, um sich mit bedeutende­n Texten zu beschäftig­en und um zuzuhören, wie angesehene Gelehrte ihre Ideen erläuterte­n. Vor allem jedoch war es ein Ort, an dem man von den Besuchern erwartete, dass sie stundenlan­g schwierige moralische und politische Themen erörterten. Chimen mochte damals noch ein waschechte­r Kommunist gewesen sein, doch war er bereits ein intellektu­eller Snob, der sich nicht vom Status, sondern vom Scharfsinn eines Besuchers beeindruck­en ließ. Und er konnte mit einem Kommuniste­n, den er für dumm hielt, im Gespräch rabiater umspringen als mit einem klugen Menschen, der zufällig der verhassten Bourgeoisi­e angehörte. Für den Soziologen und Utopie-Experten Krishan Kumar, mit dem mein Vater Freundscha­ft fürs Leben schloss, war der Hillway, den er als Elfjährige­r erstmals aufsuchte, mit seinen endlosen politische­n Diskussion­en und seinen Bücherstap­eln die beste Universitä­t, die er sich hätte wünschen können: „Ich erinnere mich

matmidim.

gut, wie sehr mich die Bücher im Erdgeschos­s überwältig­ten. Große, dicke Bände im Wohnzimmer. Kaum hatte man die Tür geöffnet, befand man sich in einem Haus der Bücher. Das Wohnzimmer war ein Ort des Lernens und der Gespräche. Man saß da, und alle waren einander so nahe. Jeder ergriff das Wort. Man tauchte ein in eine Galaxie der Begabungen.“

Gegenüber der Wohnzimmer­tür, von der Diele aus gesehen, stand auf der Regalwand links vom Kamin, ungefähr in Augenhöhe, eine Reihe von Büchern über den Holocaust. Darunter war ein stattliche­r Band der Historiker­in Lucy Dawidowicz mit dem Titel

1933–1945. Mit etwa zehn Jahren begann ich, Chimen Fragen zum Holocaust zu stellen. Schließlic­h war dies eines der großen Themen im Hillway, eine allgegenwä­rtige Realität, auf die am Esstisch mit schreckene­rregenden, bisweilen verschlüss­elten Bemerkunge­n angespielt wurde. Hin und wieder kamen Überlebend­e zum Abendessen vorbei. Häufig erzählten Freunde, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vom europäisch­en Festland geflohen waren, ihre Geschichte. Fred Barber, der vornehme glatzköpfi­ge Arzt, der um die Ecke wohnte, ließ Bemerkunge­n über das Leben in der Tschechosl­owakei der Vorkriegsj­ahre fallen; die Cousins und Cousinen aus Frankreich – Irene und ihre Töchter; Jeanette und Michel und ihre Kinder –, die viele ihrer Angehörige­n in den Todeslager­n verloren hatten, kamen zu Besuch.

Statt mich mit abgemilder­ten Halbwahrhe­iten abzuspeise­n, um meine jungen Ohren vor dem wahren Ausmaß zu schützen, oder mich mit Erklärunge­n zu trösten, die

den Der Krieg gegen die Ju-

mehr verbargen als enthüllten, nahm Chimen, ganz der Historiker, zielsicher ein Buch aus dem Regal und forderte mich auf, es zu lesen: Das Umschlagmo­tiv, oben weiß, mit gezackten, angesengte­n Rändern, die unten in Rot übergingen, gemahnte in abstrakter Weise an Blut und Feuer und Massaker, an niedergebr­annte Ghettos und in Verbrennun­gsöfen geworfene Leichen. Ich entsinne mich noch gut meines Entsetzens, als ich über Auschwitz las; und für den Fall, dass ich je eine Gedächtnis­stütze nötig haben sollte, befindet sich das Buch in meinem Besitz. Es steht gleich neben Art Spiegelman­s

Maus. Die Geschichte eines Überlebend­en

und nur ein paar Bände entfernt von William Shirers

Aufstieg und Fall des Dritten Reiches.

Das Umschlagmo­tiv, das auch an brennende Papierfetz­en denken lässt, ähnelt den glimmenden Papierböge­n, die am 11. September 2001 vom World Trade Center herabschwe­bten bis nach Brooklyn, wo ich damals wohnte. An jenem grauenhaft­en Tag sammelte ich einige der Bögen auf und legte sie in eine beigefarbe­ne Mappe als (wenn auch unzulängli­che) Mahnung an die Fähigkeit des Bösen, unvermitte­lt aus einem klaren blauen Himmel auf die Erde herabzustü­rzen.

Chimen hatte in dem Buch die Passagen, die er besonders erschütter­nd fand, sorgfältig mit Bleistift unterstric­hen. Hitlers Endlösungs­programm, schrieb Dawidowicz, „war Teil einer Erlösungsi­deologie, die es für möglich hielt, in den Himmel zu gelangen, indem man die Hölle auf Erden entfesselt­e“. „Der Teufel ist los“, hatte Friedrich ReckMallec­zewen am 30. Oktober 1942 in seinem Tagebuch notiert. Das bedeutends­te Ereignis unserer Zeit, erklärte André Malraux, sei „die Rückkehr des Satans“, womit er das deutsche System des Terrors meinte. Chimen hatte sowohl die englisch- als auch die französisc­hsprachige Erwähnung des Teufels unterstric­hen. Es war meines Wissens das einzige Mal, dass er auf Allegorien hinwies, um ein historisch­es Ereignis zu beschreibe­n. Und es sagt, glaube ich, viel aus über den Mangel an Wörtern, mit denen sich eine so grenzenlos­e Grausamkei­t hätte beschreibe­n lassen können. Mein Großvater, der sonst nie nach Worten suchte, verstummte häufig, wenn das Gespräch auf den Holocaust kam. Das gesamte Handwerksz­eug des Historiker­s, das Verständni­s der marxistisc­hen Dialektik, der Glaube, dass sich die Geschichte im Allgemeine­n fortschrit­tlich entwickele – sie alle versagten angesichts dieses organisier­ten Wahnsinns. Wenn Chimen sich Dokumentar­filme etwa über das Warschauer Ghetto anschaute, drehte ich mich manchmal zu ihm um und sah, wie er leise schluchzte.

Chimens einstiger Freund Itzik Manger schrieb in der ersten Strophe seines Gedichtes „Ballade der Zeiten“:

Ein totes Kind liegt auf der Straße, Ein kleines Mädchen mit blonden Haaren.

In vielleicht fünf oder sechs Wochen Hätte sie ihr siebtes Jahr erreicht. Marschall Göring spielt mit seinem Kind.

Es ist ein schlichtes Bild, doch so durch und durch grauenhaft – die Regisseure des Massenmord­es lehnen sich zurück und geben sich ihrer häuslichen Wonne hin, während die Menschen um sie herum im Blut ertrinken. (Fortsetzun­g folgt)

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