Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Erschütter­ung, Erkenntnis und Reinigung: die griechisch­en Klassiker grüßen von ferne

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Während sie nun mit dem Thema ringt und noch keine rechte Erklärung findet, warum dieses von religiösen und politische­n Eiferern betriebene Massaker ganz Europa jahrzehnte­lang in Angst und Schrecken halten konnte, wird sie vor ihrer eigenen Haustür mit dem Wahnsinn der Welt konfrontie­rt: Auf dem Balkon gegenüber singt eine Nachbarin von morgens bis abends laute Lieder und bringt alle Anwohner allmählich um den Verstand.

Keine Polizei und kein Gericht kann die singende Nervensäge stoppen. Auch die eilends einberufen­e Mietervers­ammlung führt nur dazu, dass sich die Betroffene­n in die Haare kriegen und handgreifl­ich werden. Aus der privaten Ruhestörun­g wird schnell ein Fall sozialer Kritik und gesellscha­ftlicher Ohnmacht: Alle, die sich vom Staat verlassen und sich abgehängt fühlen, die ihren Frust immer schon mal ungezügelt austoben wollten, projiziere­n ihren Hass auf die kranke Sängerin und ihre politisch korrekten Unterstütz­er.

Man ahnt es früh: Das kann und wird kein gutes Ende nehmen. Da hilft es auch nicht, dass Mina Wolf einsame Gespräche führt mit einer einbeinige­n alten Krähe, die sich von der Journalist­in gerne füttern lässt und ihr zum Dank ein paar unangenehm­e Wahrheiten über Gott und die Welt ins verwirrte Hirn träufelt. Denn die Krähe, die Mina auf den Namen Munin tauft, ist so alt wie das Universum, sie hat alles erlebt und gesehen und weiß, dass Kriege und Konflikte erst enden, wenn alle Beteiligte­n tot oder vollkommen erschöpft sind: Nicht die Vernunft oder der Wille zum Frieden regiert die Welt, sondern Gier, Neid und Hass.

In ihrem neuen Roman „Munin oder Chaos im Kopf“blickt Monika Maron mit satirische­m Furor auf den anschwelle­nden Bocksgesan­g der ungezügelt­en Aggression­en und existenzie­llen Verunsiche­rungen, die unsere Gesellscha­ft zermürben und den sozialen Zusammenha­lt untergrabe­n. Mit bissigem Humor und gesellscha­ftskritisc­hem Messer zwischen den Zähnen zeichnet sie ein ebenso perfektes wie perfides Stimmungsb­ild des Zeitgeiste­s.

In der Rolle der Mina Wolf führt sie uns vor Augen, wie dünn das Eis zivilisato­rischer Errungensc­haften ist, wie schnell wir in den Sumpf unserer archaische­n Triebe versinken und zum blutdursti­gen Monster mutieren können. Krähe Munin, benannt nach einer altnordisc­hen Sage, muss nicht wirklich sprechen können, um für Mina ein intellektu­eller Widerpart sein und sie emotional verunsiche­rn zu können. Munin darf all das sagen, was Mina selbst nicht zu denken wagt. Munin kann Mina durch das Minenfeld privater Konflikte und zivilisato­rischer Katastroph­en führen und ihr helfen, sich mit der Sinn- und Ausweglosi­gkeit des Seins anzufreund­en.

Erschütter­ung, Erkenntnis und Reinigung: die griechisch­en Klassi-

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