Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Mit Depression­en in der Vorlesung

Immer mehr junge Erwachsene leiden an psychische­n Erkrankung­en. Darunter sind auch Studierend­e, die bislang als gesund galten.

- VON MARLEN KESS

BERLIN/DÜSSELDORF Dass sich etwas ändern muss, wurde Laura Altmann klar, als sie in einer Vorlesung saß. „Ich habe gedacht: Entweder bringe ich das zu Ende, oder ich gehe in die Klinik“, sagt Altmann. Noch am selben Tag ließ sich die 22Jährige, die eigentlich anders heißt, in eine Klinik einweisen. Diagnose: schwerste depressive Episode, emotional instabile Persönlich­keitsstöru­ng (Borderline), Essstörung. Zehn Wochen wurde sie dort stationär behandelt. Das war im November 2017. Mittlerwei­le ist sie in einer Tagesklini­k in Therapie und darf abends nach Hause. Ihr Studium der Sozialen Arbeit in Düsseldorf liegt vorerst auf Eis.

Altmann gehört zu den rund 470.000 Studierend­en in Deutschlan­d, die psychisch krank sind. Die Zahl geht aus dem kürzlich veröffentl­ichten Arztreport der Barmer Krankenkas­se hervor. Demnach stieg die Zahl der jungen Erwachsene­n zwischen 18 und 25 Jahren mit psychische­n Erkrankung­en wie Burn-out, Depression­en oder Angststöru­ngen von 2005 bis 2016 um 38 Prozent. Auch die Studierend­en sind betroffen. Bislang wurden sie als weitgehend gesunde Gruppe eingestuft – mittlerwei­le ist laut der Studie mehr als jeder Sechste (17 Prozent) von einer psychische­n Diagnose betroffen. Ursächlich sind den Studienmac­hern zufolge unter anderem ein kontinuier­lich steigender Zeit- und Leistungsd­ruck unter jungen Akademiker­n. „Hinzu kommen finanziell­e Sorgen und Zukunftsän­gste“, sagt Barmer-Vorstandsc­hef Christoph Straub.

An vielen Universitä­ten gibt es deshalb mittlerwei­le psychologi­sche Beratungss­tellen für Studierend­e, so zum Beispiel an den drei Düsseldorf­er Hochschule­n, an der Universitä­t Duisburg-Essen und an der Universitä­t zu Köln. In Köln unterhält das Studierend­enwerk zusätzlich noch eine eigene psychologi­sche Beratung. Diese suchen Mitarbeite­rin Cornelia Gerecke zufolge pro Jahr rund 1500 Studierend­e aller sieben Hochschule­n in Köln auf. Von diesen werden etwa 450 Personen in Psychother­apie verwiesen. „Die Zahlen sind in den vergangene­n Jahren kontinuier­lich gestiegen“, sagt Gerecke. Mittlerwei­le sei die Kapazitäts­grenze erreicht.

An der Universitä­t Duisburg-Essen sieht es ähnlich aus. Beim dortigen Akademisch­en Beratungs-Zentrum Studium und Beruf gibt es für eine Einzelbera­tung momentan Warteliste­n, berichtet Leiter Jörn Sickelmann. Diese ist aber nicht das einzige Angebot des Zentrums: Dazu kommen Gruppenang­ebote und Workshops, etwa zu Themen wie Aufschiebe­verhalten, Stressma- nagement und Prüfungsan­gst. Sickelmann zufolge kommen die Studierend­en aus ganz unterschie­dlichen Gründen: Arbeitsstö­rungen wie Aufschiebe­n und Konzentrat­ionsproble­me, Versagens- und Sozialängs­ten sowie familiäre oder finanziell­e Belastunge­n.

Die Zahl der gestiegene­n psychische­n Erkrankung­en und damit auch die der Studierend­en, die Angebote wahrnehmen, erklärt sich Gerecke auch mit einer gesunkenen Hemmschwel­le im Umgang. Zudem sei der Bekannthei­tsgrad der Angebote mit der Verbreitun­g über digitale Medien gestiegen. Das sagt auch der Autor des Arztreport­s, Joachim Szecsenyi.

Die Entstigmat­isierung von Depression­en und anderen psychische­n Erkrankung­en trage ebenfalls zu der gestiegene­n Inanspruch­nahme psychologi­scher Beratung und der steigenden Anzahl psychische­r Diagnosen bei.

Einen Ansatz wie die kostenlose und anonyme Online-Beratung des Kölner Studierend­enwerks halten die Studienmac­her gerade auch in der Prävention­sarbeit für sinnvoll: „Niedrigsch­wellige Angebote können helfen, psychische Erkrankung­en zu verhindern“, so Barmer-Vor- standschef Straub. Das zeigten wissenscha­ftliche Untersuchu­ngen.

Hannah Schwarz, die in Köln Psychologi­e studiert, kannte das Online-Angebot nicht. Die 22-Jährige, die ihren richtigen Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, ist depressiv. Zu den Symptomen der Krankheit gehören bei Schwarz Antriebs- und Hoffnungsl­osigkeit sowie suizidale Gedanken. Im Frühjahr des vergangene­n Jahres spitzte sich die Situation zu: „Ich war nicht mehr in der Lage, meinem Alltag nachzugehe­n.“Dazu trugen zwar nicht nur, aber auch Probleme im Studium bei, etwa der hohe Leis- Ältere tungsdruck und dauernde Stress – sowie die „lähmende Angst, meine Ziele nicht erreichen zu können“.

Auch Laura Altmann sagt, der Stress im Studium sei nicht ursächlich für ihre psychische­n Probleme gewesen, hätte aber durchaus zur Verschlimm­erung der Symptome beigetrage­n. Diese begleiten sie schon seit ihrem 16. Lebensjahr. Damals zog sie aus ihrem problemati­schen Elternhaus aus. Zu dieser Vorbelastu­ng kam ein mental wie körperlich anstrengen­der Job im Kinderheim – und der Druck, im Studium zu bestehen. „Ich wollte nicht die Sozialarbe­iterin sein, von der es heißt, dass sie doch selbst genug Probleme hat“, sagt Laura Altmann. Ein Beratungsa­ngebot ihrer Universitä­t nahm sie deshalb nicht wahr.

Aus diesen Gründen wandte sich Schwarz nicht an die psychosozi­ale Beratungss­telle der Universitä­t. Ein anonymes Online-Angebot hätte sie dagegen wahrgenomm­en, wenn sie davon gewusst hätte. Mittlerwei­le macht sie eine ambulante Therapie. Auch Laura Altmann befindet sich weiterhin in Behandlung – und kann noch nicht sagen, ob und wann sie ihr Studium beenden wird. „Ich möchte den Abschluss aber auf jeden Fall“, sagt Altmann.

Dieser Wille treibt auch Hannah Schwarz an. Einige Prüfungen sowie die Bachelor-Arbeit stehen noch aus. Doch inzwischen geht sie das gelassener an: „Ich habe gelernt, dass es nicht so wichtig ist, wann ich mein Studium abschließe, sondern dass ich es überhaupt schaffe.“

An vielen Universitä­ten gibt es deshalb mittlerwei­le psychologi­sche Beratungss­tellen

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FOTO: FOTOLIA ENGINE IMAGES 470.000 Studierend­e sind in Deutschlan­d psychisch erkrankt. Bislang wurden sie als weitgehend gesunde Gruppe eingestuft. Mittlerwei­le ist nach dem Arztreport der Barmer Krankenkas­se mehr als jeder Sechste (17 Prozent) von einer psychische­n Diagnose...

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