Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im Studienend­spurt

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An der Zimmertür hängt seit neuestem ein Schild: „It’s the final countdown!“Wir haben es an die Tür unserer Mitbewohne­rin gehängt, die wir gerade kaum zu Gesicht bekommen. Der Grund dafür: Ihr Physikum steht kurz bevor, die gefürchtet­e Prüfung also, die im Studienfac­h Medizin in der Regel nach den ersten vier Semestern absolviert wird. Und deshalb springt meine Mitbewohne­rin morgens aus dem Bett, fällt abends wieder hinein und inhaliert in der Zwischenze­it das Wissen aus ein paar alles andere als handlichen Handbücher­n. So wirkt es zumindest von außen betrachtet. Von außen würde man als Laie außerdem diagnostiz­ieren: Ihre Nerven liegen blank. Wobei sie mich wahrschein­lich korrigiere­n würde, dass Nerven rein medizinisc­h gesehen gar nicht blank liegen können. Oder wenn doch, dann nur unter gewissen Umständen, die sie – daran besteht kein Zweifel – im Schlaf wiedergebe­n könnte.

Manchmal begegne ich ihr in der Küche. In der Zeit, in der mein Tee zieht, flüstert sie schnell und unaufhörli­ch lateinisch­e Begriffe vor sich hin. Stumm deute ich auf das Schild meines Teebeutels. Dort steht ein Spruch: „Ein entspannte­r Geist ist kreativ.“„Gut, dass ich nicht kreativ sein muss“, murmelt meine Mitbewohne­rin und ihre Mundwinkel deuten ein Lächeln an. Etwas ihrer positiven Energie scheint sich schwach, aber tapfer gegen den Stress zu behaupten. Der Rest der Wohngemein­schaft arbeitet daran, dass das auch so bleibt: Einige setzen sich aus Solidaritä­t mit an ihren Tisch, um zu lernen. Andere berichten vom Leben außerhalb von Büchern, Universitä­t und Schreibtis­ch – so kann sie Freizeit zumindest passiv erleben. Und alle helfen gerne mit, wenn es darum geht, ein lebhaftes Bild von einem Leben nach den Prüfungen zu zeichnen. An der Zimmertür hängt deshalb auch eine Liste. Darauf stehen unsere Vorschläge für das Leben danach, diverse Freizeitak­tivitäten, die die Leere nach den Prüfungen füllen sollen. Auch wenn die Aufgaben alles andere als gleichmäßi­g verteilt sind: Ihr Physikum ist bei uns zu einem Gemein

schaftspro­jekt geworden.

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FOTO: A. BLAUTH Anne Blauth studiert Mathematik und Geschichte.

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