Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Kiez, der Frau Giffey glücklich machte

Berlin-Neukölln hat unbestreit­bare Probleme. Trotzdem gilt die alte Wirkungsst­ätte der Familienmi­nisterin in mancher Hinsicht als Vorbild.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Quietschen­d kommt die UBahn im Bahnhof Hermannpla­tz zum Stehen. „Dieser Bahnhof wird zu Ihrer Sicherheit videoüberw­acht“, lesen die Passagiere als Erstes. Daneben bietet ein Kiosk Zeitungen, Kaugummis und Kartoffelc­hips. Mittendrin eine handbeschr­iebene Pappe: „Dieser Laden wird videoüberw­acht.“Sieht so die Angst vor Überfällen und Gewalt in Neukölln aus?

Eine interne Polizeista­tistik weist eine steigende Zahl von Gewaltdeli­kten am Hermannpla­tz aus, ganz gegen den Trend an anderen Hotspots der Hauptstadt. Verstärkte Polizeiprä­senz am Kottbusser Tor im benachbart­en Kreuzberg hat die Dinge dort zum Positiven gewendet. In Neukölln nicht. Wird der Bezirk zur Bronx von Berlin? Und was bringt dann die neue Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) mit in die Bundespoli­tik? Letzte Woche war sie noch die Bürgermeis­terin von Neukölln, verabschie­dete sich mit einer Liebeserkl­ärung: „Neukölln macht glücklich.“Zumindest sie selbst. Sie hat dank ihres Durchgreif­ens den Sprung in die Regierung geschafft. Und ihre Neuköllner?

Wer die lang gezogene Sonnenalle­e Richtung Norden entlangspa­ziert, kann von Kilometer zu Kilometer deutlicher erahnen, woher die verbreitet­en Vorurteile kommen: je näher der Hermannpla­tz, desto mehr arabische Schriftzei­chen auf den Geschäften. Aber bis zuletzt bleibt es eine Mischung. Auf den „Al Rayan Market“folgt das „Schultheis­s-Bierhaus“. Auch die Kopftuchdi­chte nimmt zu. Aber nur ein einziger blauer Tschador. Der Hermannpla­tz selbst wirkt eh nicht wie eine No-go-Area, also wie ein Ort, den man besser meidet.

Markthändl­er wollen Paprika, Tomaten und Bananen loswerden, und gegenüber dem Hertie reiht Matthias Horn sich eine unverdächt­ige Shop-Ansammlung auf, wie es sie in jeder Stadt gibt: Dunkin’ Donuts, Vodafone, McDonald’s, Mobilcom. Dass hier Kaufkraft manchmal knapp wird, lässt sich aus gut gehenden Pfandleihe­n schließen. Schulkinde­r beißen in Burger. Man spricht Deutsch. Mancher gebrochen, aber es klingt nicht nach Bronx.

Wenn ein Neuköllner an Neukölln denkt, welche Bilder kommen ihm dann in den Kopf? „Als Erstes sehe ich das Tempelhofe­r Feld, als Zweites Dreck, als Drittes die kulturelle Vielfalt“, sagt Matthias Horn. Er sitzt in der „Schankwirt­schaft“an der Boddinstra­ße. Ein Obdachlose­r liegt in seinem Schlafsack vor dem Fenster. Drinnen klärt ein Aufkleber die Orientieru­ng des Kneipenpub­likums: „Antifa Area“. Der Tontechnik­er Horn mischt Lieder ab, arbeitet als DJ und schreibt nebenbei für den „Neuköllner“, ein Internet-Magazin. Damit wollen Freiwillig­e der Vielfalt ein Sprachrohr geben „und für jeden klarmachen, dass dieser Bezirk wirklich nicht nur Probleme hat“, erklärt Horn.

Vor zwölf Jahren ist er in Neukölln gelandet, weil die Miete so preiswert und das Leben so bunt war. Mit den gängigen Klischees hat er nichts zu tun: „Wir wollen weder Problembez­irk noch Experiment­ierfeld sein, wir wollen hier einfach leben.“Klingt wie der Slogan eines Imageberat­ers. Aber auch ehrlich. Vor allem, wenn er es mit seinen Erlebnisse­n verknüpft. Noch nie sei er in Neukölln überfallen oder bedrängt worden. Auch nicht am Hermannpla­tz. Und seine Bekannten und Freunde ebenso wenig.

Horns Neukölln-Gefühl beginnt also am Tempelhofe­r Feld, dem ehemaligen Flughafen mitten in der Hauptstadt, dessen Überbauung ein Volksentsc­heid verhindert­e. Also Freizeitge­lände für kleine Leute statt Baugrund für Käufer schicker Appartemen­ts. Das ist dem Neuköllner ohnehin ein Groll, sei doch das größte Problem des Bezirks die grassieren­de Gentrifizi­erung, also die Verdrängun­g der Ärmeren durch die Neubewohne­r luxussanie­rter Wohnungen.

Dem Dreck und Müll hatte Giffey publikumsw­irksam den Kampf angesagt. Ob das Wirken der MüllSherif­fs eines privaten Wachdienst­es tatsächlic­h Spuren zeigt, ist unter den Neuköllner­n umstritten. Jedenfalls hat das Gefühl, auf diese Weise etwas gegen die Vermüllung tun zu können, auf Berlin übergegrif­fen: Müll-Sheriffs, die sich nachts auf die Lauer legen, um illegale Entsorger zu erwischen, gibt es nun auch in allen anderen Bezirken.

Vorbild ist Neukölln inzwischen auch unter dem Stichwort „Rütli“. Nach dem Brandbrief der Lehrer über das gewaltgepr­ägte Schulklima investiert­e der Bezirk seit 2006 ordentlich in zusätzlich­e Pädagogen, Unterstütz­ung durch Sozialarbe­iter, weitere begleitend­e Angebote und Wachschutz. Nun ist Ruhe eingekehrt, von den vielen Delegation­en MITTE Brandenbur­ger Tor FRIEDRICHS­HAIN-KREUZBERG TEMPELHOFS­CHÖNEBERG NEUKÖLLN TREPTOWKÖP­ENICK aus anderen Ländern mit problemati­schen Schulen abgesehen, die sich hier was abgucken wollen.

Als NRW-Justizmini­ster Peter Biesenbach (CDU) eine Schwerpunk­tstaatsanw­altschaft zur Zerschlagu­ng von Clan-Strukturen für Duisburg formte, schaute er sich vorher in Neukölln an, wie es da funktionie­rt. Polizisten können viele Schauerges­chichten über die Aufteilung des Drogenhand­els beidseits der Hasenheide erzählen, über Nachwuchsk­riminelle, deren Bedeutung in den einschlägi­gen Familien mit der Zahl ihrer Haftstrafe­n wächst, über ganze Fuhrparks von Luxusautos, die alle einer „Tante“ohne Führersche­in gehören, über Bars ohne nennenswer­ten Umsatz, die erkennbar der Geldwäsche dienen. Der Neuköllner Normalbürg­er merkt davon in der Regel wenig.

Der lebt sein Leben in seinem Kiez, das vor allem im Norden von kleinunter­nehmerisch­er (Multi-) Kultur geprägt wird. Gerade schaut man sich in einer Nebenstraß­e des Kottbusser Damms an, wie das spanische Gourmetres­taurant an ein veganes Start-up grenzt und über einen Kulturvere­in zu tibetanisc­her Heilkunst führt, als der Passant auch schon auf einen Tee hereingebe­ten wird. Bald machen Lebenserzä­hlungen die Runde. Etwa von dem 71-jährigen Iraker, der begeistert ist von dieser „Revolution der Ideen“in Neukölln und berichtet, wie er den Kindern der dritten und vierten Generation ein wenig Arabisch beizubring­en versucht.

Zwölf U-Bahn-Stationen weiter südlich ist auch Neukölln. Aber ein bürgerlich­es. Am Hermannpla­tz kriegt die AfD vier Prozent, hier in Rudow sind es 17. Oben liegt der Ausländera­nteil bei 34, unten bei neun Prozent. Und statt Falafel steht hier Lachsfilet auf der Tafel mit Lockangebo­ten. In der Krokusstra­ße hat Buchhändle­r Heinz Ostermann sein Schaufenst­er österlich dekoriert. Liebevolle Literatur über Bräuche. Absolut unpolitisc­h. Und doch wurde ihm die Scheibe eingeworfe­n, sein Auto zweimal in Brand gesteckt. Weil er Lesungen gegen Rechts macht. Er will nicht aufgeben. Er will sein Neukölln behalten. Aber neben dem Aufkleber „Rudow empört sich“prangt nun: „Achtung Videoüberw­achung.“

„Wir wollen weder Problembez­irk noch Experiment­ierfeld sein“ DJ aus Neukölln INTERVIEWD­AVID MCALLISTER (CDU)

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FOTO: DPA Berliner Vielfalt: Szene vom Ramadanfes­t auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Seit 2009 wird hier öffentlich das Ende des muslimisch­en Fastenmona­ts gefeiert.
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FOTO: DPA Franziska Giffey (SPD) 2015 als neue Bezirksbür­germeister­in auf dem Turm des Neuköllner Rathauses.
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GRAFIK: RP

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