Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Haus der 20.000 Bücher
In seinem Arbeitszimmer im University College London verwahrte Chimen ein Exemplar von Hitlers Genauso sorgfältig wie in Dawidowiczs Text hat er auch in Schlüsselpassagen unterstrichen, diesmal mit roter Tinte, und deutliche kleine Notizen an die Ränder gekritzelt. „Ihm [dem Juden] fehlt die allerwesentlichste Voraussetzung für ein Kulturvolk: die idealistische Gesinnung“, hatte Hitler behauptet; Juden seien staatenlose Wanderer, die jegliche Kultur, in der sie sesshaft würden, verderben würden. Chimen vermerkte auf dieser Seite, Hitler behaupte, dass „die Juden nie eine Territorialgrenze gekannt hätten und schlimmer als Nomaden seien“. Der Historiker in Chimen hatte sich gezwungen, die Hasstirade sorgfältig zu lesen, und die Absätze unterstrichen, in denen Hitler die Juden als Parasiten und Bazillen, den Marxismus als jüdische Idee und die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg als Folge des jüdischen Wirkens bezeichnete. In einem Brief von 1978 an Dr. John P. Fox, der eine BBC-Vorlesung über die Judenräte im besetzten Europa vorbereitete, wies Chimen auf jene Passage hin: „Hitler stellt die Juden in als gefährlichen Bazillus dar – als Parasiten am Staatskörper Deutschlands, der vernichtet werden müsse, um die deutsche Nation zu retten. Ob dies letztlich zur Endlösung führte, ist eine andere Frage, aber es kann kaum Zweifel daran geben, dass der Keim für die Vernichtung der Juden bereits in
enthalten ist.“Als ich während meines Studiums einmal auf einen Kaffee vorbeischaute, erwähnte Chimen, seine Familie habe nach dem Krieg herausgefunden, dass seine damals
Kampf Mein Kampf Mein Kampf Mein Kampf. Mein
schon hochbetagte Großmutter – Raizls Mutter Leah, die Tochter von Rabbi Dovid Willowski – von den SS-Einsatzgruppen in Weißrussland getötet worden war. Möglicherweise sei sie in einem der Ghettos oder irgendwo in den Wäldern erschossen worden; vielleicht sei sie auch in einer der ersten fahrbaren Gaskammern vergiftet worden, die in Weißrussland zum Einsatz kamen. Über sechzig Jahre später konnte Chimen mir nicht genau sagen, wie meine Ururgroßmutter gestorben war, aber er wusste noch, dass die Nazis sie ermordet hatten. Es war das einzige Mal, dass er in meiner Gegenwart von seinen persönlichen Verlusten während des Holocaust sprach; und er ging rasch darüber hinweg, ohne Details zu nennen. Allem Anschein nach war das Geschehene für Chimen zu gewaltig – und der darin untergegangene einzelne Mensch zu klein, um individuell betrauert zu werden. Zu leicht konnte der Tod eines Einzelnen von anderen, größeren Schrecken verschlungen werden: von der Zerstörung ganzer Gemeinden; von der systematischen Ermordung von Millionen Menschen; durch den vollständigen Verlust von Gemeinschaften, die jahrhundertelang in Osteuropa existiert hatten. Da Chimen kein Sozialhistoriker war – im Unterschied zu seinem Neffen Raph Samuel, der sich darauf spezialisierte, die Geschichten Einzelner zu erzählen und ihr Leben so aus der Anonymität zu führen –, fiel es ihm leichter, die Auswirkungen historischer Ereignisse auf Länder und Wirtschaftssysteme zu erforschen, als detailliert das Leben einzelner Menschen zu beschreiben, die sich in jenem historischen Netz verfangen hatten.
Und doch berührten ihn diese Geschichten zutiefst. Erst nach seinem Tod entdeckte ich, dass Chimen maßgeblich daran mitgewirkt hatte, über 1500 Thora-Schriftrollen aus Böhmen und Mähren nach London bringen zu lassen. Sie waren zum einen von Juden zusammengetragen worden, die den Wunsch hatten, wenigstens ein paar Artefakte aus ihrer Welt zu bergen, bevor diese dem Völkermord zum Opfer fiel. Zum anderen waren groteskerweise auch nationalsozialistische Ethnografen auf der Suche gewesen nach Beutegut für das makabre Museum, das sie in Prag als Epilog zu der Geschichte einer ausgelöschten Rasse zu gründen gedachten. Während des Krieges wurden die Schriftrollen neben Tausenden anderer Stücke aus verschwundenen jüdischen Wohnungen und Gemeinden im Jüdischen Museum in Prag sowie in einigen der dortigen Synagogen ausgestellt. Jüdische Bibliothekare und Gelehrte stellten die Objekte zusammen, nationalsozialistische Büroangestellte katalogisierten und kennzeichneten sie, und nur ein paar ausgewählte SS-Offiziere bekamen sie zu Gesicht. In jenen Jahren wurde die jüdische Bevölkerung von Böhmen und Mähren systematisch ermordet. Die meisten brachte man zuerst in das „Musterlager“Terezín (Theresienstadt) und dann nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungszentren. Von 100.000 Menschen überlebten kaum 7000. Nach dem Krieg lagen die Schriftrollen unbenutzt und vergessen in einer winzigen Synagoge in einem Prager Vorort; sie waren mit Klarsichtfolie umwickelt, etliche von einer dünnen Schimmelschicht bedeckt.
Dort blieben sie mehr als achtzehn Jahre lang, bis 1963 ein Londo- ner Galerist namens Eric Estorick, der sich auf osteuropäische Kunst spezialisiert hatte, durch einen tschechischen Regierungsvertreter von ihnen erfuhr und Chimen beauftragte, nach Prag zu reisen und sie zu begutachten. Als Erstes sollte mein Großvater feststellen, welche Schriftrollen als koscher (also unbeschädigt und damit in einer Synagoge verwendbar), welche als (entweiht oder zerrissen, verschimmelt oder durch Wasser beschädigt und damit untauglich für den religiösen Gebrauch) und welche als fraglich (defekt, doch durch geschickte Schreiber und Gelehrte zu retten) einzustufen waren. Chimen, der normalerweise selbst die banalsten Termine penibel in den winzigen mit Stoff überzogenen Tagebüchern festhielt, die er in seiner Jackentasche mit sich herumtrug, hinterließ keine Aufzeichnungen von dieser Reise; in seinem kleinen kastanienbraunen Jahresplaner fand sich weder eine Flugnummer noch eine Notiz wie etwa „Abreise nach Prag“. Mittlerweile hatte er eine an Paranoia grenzende Angst davor, auch nur das geringste Detail, das im Zusammenhang mit dem Ostblock stand, schriftlich festzuhalten. Die Reise muss jedoch Ende Oktober stattgefunden haben, da sein Tagebuch in jenem Zeitraum etwas mehr als eine Woche lang keine Einträge aufweist.
Die Atmosphäre in Prag war bedrückend. Dort sei er, wie er den an dem Vorhaben Beteiligten später erzählte, von KGB-Agenten beschattet worden und habe unablässig gefürchtet, dass man ihn verhaften und nach Moskau zurückschicken werde.
passul
(Fortsetzung folgt)