Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Europäisch-türkische Gesprächst­herapie

Tiefe Gräben trennen die EU und die Türkei. Aber beide Seiten sind aufeinande­r angewiesen. Und so redet man eben miteinande­r.

- VON GERD HÖHLER

WARNA Zum Gipfeltref­fen mit den EU-Spitzen im bulgarisch­en Warna gestern reiste der türkische Staatschef Erdogan zwar mit großem Gefolge an, vier Minister begleitete­n ihn. Aber bei dem Treffen, das bis spät in den Abend dauerte, erhoffte sich niemand große Fortschrit­te angesichts der tiefen Gräben zwischen der Türkei und der EU.

Wie zerrüttet die Beziehunge­n sind, zeigte das Kommuniqué des jüngsten EU-Gipfels. Zur Kontrovers­e um die Bodenschät­ze vor Zypern und die Grenzstrei­tigkeiten Ankaras mit Griechenla­nd heißt es: „Der Europäisch­e Rat verurteilt das anhaltende rechtswidr­ige Vorgehen der Türkei im östlichen Mittelmeer und in der Ägäis scharf.“Ankara reagierte empört. Ein Sprecher sagte, die Erklärung enthalte „inakzeptab­le Äußerungen“.

Seit dem Putschvers­uch vom Juli 2016 hat sich die Türkei immer weiter von der EU entfernt. Über 150.000 Menschen hat Erdogan aus dem Staatsdien­st gefeuert, gegen 402.000 mutmaßlich­e Putschiste­n wird ermittelt, fast 65.000 angebliche Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen sitzen in Haft. Unter dem seit 20 Monaten geltenden Ausnahmezu­stand sind wichtige Grundrecht­e eingeschrä­nkt. Erdogan regiert das Land praktisch im Alleingang, ohne Kontrolle durch das Parlament oder die Justiz.

In jüngster Zeit sind neue Probleme hinzugekom­men: Die türkische Militärint­ervention in Syrien verstößt nach Meinung vieler ausländisc­her Fachleute gegen das Völkerrech­t. Als jetzt Bundeskanz­lerin Angela Merkel in ihrer Regierungs­erklärung Kritik an der Syrien-Operation übte, konterte der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu mit dem Vorwurf, Merkel betrachte die Vorgänge „mit den Augen einer Terrororga­nisation“. Im Februar verhängte Ankara mit Kriegsschi­ffen eine Seeblockad­e vor Zypern und hinderte so ein Bohrschiff daran, vor der Küste der EU-Inselrepub­lik nach Erdgas zu suchen.

Die Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU waren schon lange vor dem Putschvers­uch weitgehend eingefrore­n. Angesichts des fortschrei­tenden Demokratie­abbaus in der Türkei hätte die EU sie eigentlich offiziell aussetzen müssen, denn die Türkei erfüllt nicht mehr die Kopenhagen­er Kriterien, an die alle Beitrittsk­andidaten gebunden sind. Dennoch will man den Gesprächsf­aden nicht abreißen lassen, obwohl Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz vor dem Gipfel erneut verlangte, die Verhandlun­gen über einen EU-Beitritt des Landes abzubreche­n. Aber die EU will den vor zwei Jahren geschlosse­nen Flüchtling­spakt nicht aufs Spiel setzen.

Erdogan wiederum hat zwar mit den Werten der EU nichts am Hut. Aber der türkische Präsident hat erkannt, dass er die Brücken zum wichtigste­n Handelspar­tner und Investor seines Landes nicht einfach abbrechen kann.

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FOTO: REUTERS Der bulgarisch­e Ministerpr­äsident Bojko Borissow (r.) begrüßt den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan in Warna.

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