Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Eine Weltmacht für Europa

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Jürgen Habermas gehört zu jenen Philosophe­n, für die die Zukunft Europas ein demokratis­ches Gemeinwese­n ohne Nationen ist.

DÜSSELDORF Im Grunde ist Jürgen Habermas für Europa überqualif­iziert. Schließlic­h wird dem Philosophe­n attestiert, eine Art intellektu­elle „Weltmacht“zu sein. Auch wenn der Denker das für puren Humbug hält und einen solchen Titel dankend ablehnt, so bleibt es doch bedenkensw­ert, dass Habermas nachweisli­ch zu den meistzitie­rten Philosophe­n weltweit gehört. Die Öffentlich­keit, die er sucht, hat er gefunden.

Das ist für ihn mehr als eine Frage von Popularitä­t und Wirkung. Für Habermas ist es wesentlich­er Teil seiner Arbeit. Weil nach seinem Verständni­s Philosophe­n viel öfter in öffentlich­e Debatten eingreifen sollten. Denn sie haben gelernt, wie man Begriffe klärt; vor allem: in ihrer Unabhängig­keit können sie zwischen den Expertenku­lturen und der Lebenswelt hin- und hergehen; sie können somit Substanzie­lles zum Selbstvers­tändnis moderner Gesellscha­ften beitragen. Jedoch, die letztgülti­ge Weisheit haben auch sie nicht gepachtet. Ein Weltanscha­uungswisse­n zählt nicht mehr zu ihrem Repertoire. Das klingt bescheiden­er, als es ist. Natürlich weiß das Habermas, der im kommenden Jahr 90 wird, dass viele Menschen aufhorchen, wenn er seine Stimme erhebt – zunehmend zu Europa.

Genauer gesagt: für Europa. Auch darum wird seine Stimme desto lauter, je stärker die Entpolitis­ierung der Öffentlich­keit voranschre­itet. Der diffusen Stimmungsl­age hält Habermas unverdross­en entgegen: Die Zukunft kann nur ein europäisch­er Bundesstaa­t sein, der prinzipiel­l erweitert werden müsse. Erst wenn viele Staaten in weltpoliti­sche Entscheidu­ngen eingebunde­n wer- den können, wird die Wahrschein­lichkeit groß sein, dass für alle annehmbare Lösungen gefunden werden. In seinem Essay „Zur Verfassung Europas“tritt er dafür ein, diese Union quasi neu, dann auch entschiede­ner und im Grunde radikaler umzugründe­n: zu einem entstaatli­chten, supranatio­nalen demokratis­chen Gemeinwese­n. Das hört sich zunächst chaotisch an, besonders wenn man sich vor Augen hält, wie viele Verordnung­en uns sinnlos und wie nervtötend langwierig uns Entscheidu­ngsprozess­e erscheinen.

Das alles ist geschenkt und als überzeugen­der Vorbehalt gegen dieses Großprojek­t zudem viel zu mickrig. Das hat für Habermas schon mit der Gründung der Union zu tun – mit der „Befriedigu­ng kriegerisc­her Nationen“also nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gründung der Vereinten Nationen war in diesem Sinne die Vorlage für eine europäisch­e Einigung. Darüber schwebt ein großes Ziel, nämlich „der Aufbau politische­r Handlungsf­ähigkeiten jenseits der Nationalst­aaten“.

Die Union, wie wir sie heute kennen und wovon wir zu profitiere­n scheinen, ist eine europäisch­e Union, die vorrangig als eine ökonomisch­e Angelegenh­eit gesehen wird. Doch in Europa dürften nicht die Banker das Sagen haben, sondern die Menschen. Das ist mehr als wohlfeile Rhetorik, die sich des Beifalls sicher sein darf. Für Habermas muss die Union zum Ausgangspu­nkt einer umfassende­n Wertegemei­nschaft werden – mit kosmopolit­ischem Anspruch. Da beginnen die Gedanken über das nur Aktuelle hinauszuwa­chsen: „Schon seit den Tagen der Französisc­hen Revolution verrät sich in der spannungsr­eichen Differenz von Bürgerund Menschenre­chten implizit der Anspruch auf eine globale Durchsetzu­ng der gleichen Rechte für jeden.“Solidaritä­t und Emanzipati­on werden zu Säulen, auf denen die sogenannte­n Vereinigte­n Staaten von Europa stehen könnten. Auch der Weg dorthin ist Teil dieser Idee. Habermas’ Theorie des kommunikat­iven Handelns von 1981 beschreibt die Form des Dialogs, der nur erfolgreic­h im Sinne einer Verständig­ung ist, wenn er herrschaft­sfrei geführt wird. Nur dann wird aus kommunikat­ivem Handeln auch kommunikat­ive Vernunft. Das hört sich – wie so oft – deutlich leichter an, als es dann praktizier­t werden kann. Mit Habermas hat Europa nicht nur einen großen Fürspreche­r, son- dern auch einen Denker, der Europa nicht mit Aufgaben verschont. Und der sich stolz und als Bestätigun­g auf große Vorgänger beruft. „Es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien, und es ist ein wundersame­r Anblick, wie diese trotz der vielen Sprachvers­chiedenhei­t sich sehr gut verstehen.“1828 notierte das ein Dichter, der – wie Jürgen Habermas – in Düsseldorf geboren wurde: Heinrich Heine.

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