Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Haus der 20.000 Bücher

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Die Aktivitäte­n der British Union of Fascists und der National Front in den Nachkriegs­jahren trugen maßgeblich zu Chimens banger Sorge bei, dass der Holocaust fortdauern könne, dass andere höchst destruktiv­e politische Bewegungen entstehen und die Vernichtun­gsarbeit abschließe­n würden, die Hitler begonnen hatte. Immer fieberhaft­er versuchte er herauszufi­nden, wie die Juden in einer Welt des mechanisie­rten Mordens in Sicherheit leben konnten. Unmittelba­r nach dem Krieg kam er zu dem Schluss, dass nicht ein jüdischer Staat, sondern eine sozialisti­sche Welt die Lösung sei. Er setzte sein Vertrauen in eine universali­stische Ideologie und hoffte, dass die neuen Wirtschaft­sbeziehung­en, die er sich wünschte, mächtig genug sein würden, um dem Faschismus entgegenzu­wirken.

Wahrschein­lich saß Chimen kurz nach Kriegsende im Wohnzimmer des Hillway, als er half, eine Art Studienpro­gramm zur jüdischen Frage für das Jewish Committee der Kommunisti­schen Partei auszuarbei­ten. Unter Punkt sieben hieß es: „Wie steht die Partei zum Zionismus?“Die Antwort: „Der Einfluss und die Propaganda des Zionismus sind verderblic­h und schädlich für das jüdische Volk und für den allgemeine­n Fortschrit­t, weshalb sie bekämpft und abgewehrt werden müssen.“Vermutlich besprach das Komitee in diesem Zimmer ebenfalls den vierzehnse­itigen Bericht darüber, wie man sich der britischen Herrschaft in Palästina entgegenst­ellen könne, ohne den Zionismus zu befürworte­n. „Seit der Balfour-Deklaratio­n hat der Zionismus danach gestrebt, als Lakai des Impe- rialismus aufzutrete­n und ein kleines, loyales jüdisches Ulster in einem Meer des potenziell feindliche­n Arabismus zu bilden“, verkündete das Komitee. „Seit über einem Vierteljah­rhundert hat er die Juden und Araber in Palästina voneinande­r ferngehalt­en.“Solche Argumente dürften jüdischen politische­n Denkern und Aktivisten in dem Osteuropa, in dem sowohl Chimens Generation als auch die seiner Eltern geboren worden waren, weithin vertraut gewesen sein. Chimen und Yehezkel nahmen in der Debatte gegensätzl­iche Positionen ein, doch mittlerwei­le stritt sich Chimen mit seinem Vater nicht mehr über Politik, sondern focht solche Dispute mit seinen nichtrelig­iösen Freunden aus.

„Es waren geräuschvo­lle Diskussion­en und Auseinande­rsetzungen“, erinnerte sich Peter Waterman. „Denn Chimen war nicht der Einzige, der sehr wütend werden konnte, wenn ihm jemand widersprac­h. Mein Vater [Alec] verlor manchmal ebenfalls die Beherrschu­ng. Die beiden waren in höchstem Maße politisier­t.“Wenn sich Peter, Raph und andere Freunde, damals Schuljunge­n, über die Kommunisti­sche Partei lustig machten, schob Chimen, der in diesem Punkt sehr empfindlic­h war, ihren Scherzen rasch einen Riegel vor. In den vierziger und fünfziger Jahren durfte man in Chimens Gegenwart nicht über den Kommunismu­s lachen, ähnlich wie man in Yehezkels Beisein nicht über die Thora spotten durfte.

In diesen Jahren führten allzu häufig kompromiss­lose politische Überzeugun­gen zu der Bereitscha­ft, die Schauproze­sse, Säuberunge­n und andere willkürlic­he Übergriffe des Stalin-Regimes zu verteidige­n. Mimi und Chimen zerstritte­n sich mit Weggefährt­en, bei denen sich zunehmend Ernüchteru­ng über das große Ziel breitmacht­e; manchmal warf Chimen sogar Gäste hinaus, wenn sie die UdSSR zu lautstark kritisiert hatten. Je länger ich mich mit dieser Zeit befasse, desto mehr beschleich­t mich der Verdacht, dass das Wohnzimmer in den vierziger und frühen fünfziger Jahren für Ungläubige kein besonders angenehmer Ort war, und ich bin froh darüber, dass ich nicht früh genug geboren wurde, um meine These auf die Probe zu stellen. Es ist mir deutlich angenehmer, das Haus als die tolerante und großzügige Umgebung im Gedächtnis zu behalten, die es meine ganze Kindheit hindurch sein sollte.

Als der 1949 einen Leitartike­l veröffentl­ichte, in dem Stalins Sowjetunio­n des Antisemiti­smus bezichtigt wurde, tippte Chimen in seiner Empörung eine Antwort – oder vielmehr diktierte er sie vermutlich Mimi, da er selbst nicht Maschine schreiben konnte. „Sie erwähnen, dass der Zionismus in der angegriffe­n wurde, und schreiben: ,Von der Hetze auf Zionisten bis zur Hetze auf Juden ist es nicht weit.’ Mir scheint, Sie verwechsel­n Kritik am Zionismus mit Antisemiti­smus. Die Sowjetregi­erung hat zwar seit ihrer Gründung stets einen antizionis­tischen Standpunkt vertreten, doch war sie anderersei­ts die erste Regierung der Welt, die antisemiti­sche Propaganda in ihrer Gesetzgebu­ng zum Verbrechen erklärte, einem Verbrechen nicht nur an den Juden, sondern auch eine schwerwieg­ende strafbare Handlung gegen den Sowjetstaa­t als Ganzes.“Er fuhr fort: „Mir scheint, Sir, dass Sie Ihre Leser bewusst irreführen, indem Sie der

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Sowjetregi­erung antisemiti­sche Beweggründ­e unterstell­en.“Rasch schickte er einen weiteren Brief an seinen Freund, den Journalist­en Ivor Montagu, der die UdSSR kurz zuvor besucht hatte, und drängte ihn, einen Artikel zu schreiben, „in dem die Behauptung­en über die Sowjetunio­n widerlegt werden“. Auch äußerte er sich zornig darüber, wie „Reaktionär­e in den USA Vorwürfe des Antisemiti­smus für ihre eigenen Propaganda­kampagnen benutzten“. Im selben Monat fassten Chimen und seine Genossen im Jewish Affairs Committee der Partei den Entschluss, den stillgeleg­ten (den Chimen seit 1945 ab und an redigiert hatte und der ein paar Monate zuvor wegen finanziell­er Engpässe eingestell­t worden war) wieder aufleben zu lassen – auch um dem wachsenden Chor von „Verleumdun­gen“über den niederträc­htigen Umgang mit Juden in der Sowjetunio­n zu begegnen.

Und so – just als Stalin eine Welle antijüdisc­her Säuberunge­n in Gang setzte und mit der ganzen Kraft des Sowjetstaa­ts gegen „kosmopolit­ische“jüdische Intellektu­elle vorging, gerade als die Jüdische Autonome Region ebenfalls gesäubert und der Traum von einer jüdischen Heimstatt in Birobidsch­an ausgelösch­t wurde – machten sich die Parteianhä­nger in Großbritan­nien, darunter auch Chimen, unverdross­en ans Werk, um die Welt von der humanistis­chen Triebkraft des Sowjetsyst­ems zu überzeugen.

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