Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wer sind meine Nachbarn?
Immer wieder hört man von Anonymität in der Großstadt. Ich kannte nicht einmal die Menschen, die mit mir unter einem Dach wohnen – bis ich einfach an ihren Türen geklingelt habe.
Anja kenne ich erst wenige Minuten. Wir sitzen an ihrem Küchentisch und sehen aus dem Fenster. „Schöne Aussicht“, sage ich und nehme ein Schluck aus meinem Glas. Eigentlich könnte ich Anja schon länger kennen – immerhin wohnen wir seit fünf Jahren im gleichen Haus. Dass wir nun hier zusammensitzen, ist meiner letzten Kleiderbestellung zu verdanken. Als ich diesen kleinen gelben Zettel in meinem Briefkasten fand, war ich erst einmal ratlos. Paket abgegeben bei „Marfels“– in welche Etage musste ich gehen?
Laut einer Marktforschungsstudie kennen fast 40 Prozent der Deutschen weniger als fünf ihrer direkten Nachbarn persönlich, zwölf Prozent kennen gerade einmal einen oder sogar keinen ihrer Nachbarn.
Ich möchte nun nachholen, was ich bei meinem Einzug versäumt habe, und meine Nachbarn kennenlernen. „Das ist ja eine tolle Idee“, hat Anja gesagt, als ich an jenem Nachmittag vor ihrer Tür stand. Nun sitzen wir in ihrer Wohnung. Sie ist 54 Jahre alt, mittelgroß, hat dunkle Haare. In ihrem Leben ist sie schon oft umgezogen, Anja hält einen Moment inne, rechnet nach und sagt dann: „Neun Mal müsste es gewesen sein.“Aber woanders als in Düsseldorf hat sie noch nie gelebt. Sie arbeitet als Ergotherapeutin in einem Berufstrainingszentrum. nen.“Trotzdem glaubt Anja, dass der Trend auch wieder in eine andere Richtung gehen wird: „Viele Wohnanlagen werden ja im Hinblick auf Nachbarschaft gebaut, es gibt dann zum Beispiel einen gemeinsamen Hof oder ähnliches.“
Zurück im Treppenhaus, erinnere ich mich, wie es damals war: Mit meinen Eltern wohnte ich in einer Sackgasse. Ich wusste genau, wer in welchem Haus wohnt. Als ich einmal operiert wurde und mit meiner Mutter aus dem Krankenhaus kam, wurde sie von einer Nachbarin mit einer Tasse Kaffee begrüßt – „es war sicher eine lange Nacht“. Ein anderes Mal hat mich eine Nachbarin zum Bahnhof gefahren. Bei größeren Festen und runden Geburtstagen kamen alle zusammen. Nachbarschaft war neben Kollegen, Freunden und Familie eine weitere Gemeinschaft. In der Großstadt dagegen sind Nachbarn Menschen, die nebeneinander wohnen und oft dennoch nichts voneinander wissen. Manche, weil sie es nicht wollen, weil sie die Anonymität suchen und schätzen. Aber was ist mit den anderen?
Silvia habe ich das erste Mal gesehen, als sie vor meiner Tür stand. Sie war gerade eingezogen und suchte ihren Stromkasten. Seitdem grüßen wir uns, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Länger unterhalten haben wir uns nie. Nun stehe ich vor ihrer Tür, zögere einen Moment und drücke dann auf die Klingel.
Auf der anderen Seite höre ich Schritte, Schlüssel drehen sich im Schloss, dann öffnet sich die Tür: Silvia Wilke, groß, mittellanges blondes Haar ist gerade auf dem Sprung. „Ich muss gleich zur Arbeit, aber etwas Zeit habe ich noch“, sagt sie und lässt mich hinein. „Setz dich doch.“Zur Arbeit, damit meint Silvia ihren Nebenjob in einem Supermarkt. Die 22-Jährige studiert in Düsseldorf Englisch und Modernes Japan.
Fast hätte ich es mir denken können. Der hintere Teil ihrer Wohnung erinnert an einen Comicbuchladen – fein säuberlich sortiert reihen sich dort Sammelfiguren und ganze Mangaheft-Reihen, auf Deutsch und Japanisch. Silvia zieht eines der Bücher hervor: „Man liest sie von hinten nach vorne.“Ich staune angesichts des Zeichen-Wirrwarrs. Silvia kann sie alle lesen, „naja, bis auf die Kanji-Zeichen, aber davon kennen nicht einmal die Japaner alle“, erzählt sie.
Längst ist Anonymität in Großstädten zu einem geflügelten Wort geworden, Schreckensmeldungen, dass Personen tagelang tot in der Wohnung liegen, ohne dass es jemand bemerkt hat, geistern umher. Bei uns grüßt man sich freundlich, hält einander die Türen auf, hilft sich bei Kleinigkeiten. Ansonsten aber