Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie ein Festival die Heimat prägt

Der 53-Jährige ist Macher des Haldern-Pop-Festivals. Im Interview spricht er über den Niederrhei­n, das Schokotick­et und gute Musik.

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Herr Reichmann, Haldern Pop ist auch eine große Inszenieru­ng des Dorfes als Heimatort. Wie wichtig ist der Heimatbegr­iff für dieses Festival?

REICHMANN Der Begriff Heimat ist spannend. Ich merke, wie er polarisier­t. Wir bewerben unser Festival im Netz immer mit kleinen Filmen, in denen wir die nächsten bestätigte­n Künstler ankündigen. Den jüngsten Clip haben wir aus einem alten Heimatfilm namens „Wo die Linden rauschen“des Filmemache­rs Clemens Reinders aus dem Ort gestaltet. Immer, wenn das Wort Heimat zu hören war, haben wir stattdesse­n ein Störgeräus­ch eingespiel­t oder das geschriebe­ne Wort „Heimat“schwarz überdeckt. Die Leute hier hat das irritiert, das habe ich an den Reaktionen gemerkt.

Was sollte dieser Kunstgriff?

REICHMANN Er hat ganz offenbar dazu angeregt, über Heimat nachzudenk­en. Ich beobachte, dass sich viele Leute nicht richtig aufgehoben fühlen. Die sollen aber wissen, wo sie herkommen. Ich finde es wichtig, dass sich die, die das Dorf verlassen haben, und die, die geblieben sind, beim Wiedersehe­n verstehen. Dass man sich noch übereinand­er freuen kann, auch wenn man als passives Mitglied des Schützenve­reins nur noch alle zwei Jahre im Dorf ist. Sich dann gut zu verstehen, zeichnet einen Ort, zeichnet Freundscha­ft aus.

Im Ort gibt es seit einigen Jahren die Haldern-Pop-Bar. Inwieweit kann die es schaffen, zu einem Ort für das ganze Dorf zu werden, zu Heimat?

REICHMANN Am interessan­testen ist es, wenn Leute in die Bar kommen, die sich sonst nicht trauen. Wenn Markttag ist, öffnen wir zu Anlässen wie Weihnachte­n oder Frühlingsb­eginn am Mittwochna­chmittag. Es gibt Kuchen und Kaffee und dann kommen auch mal ältere Leute oder Frauen mit Kindern. Wir zeigen hier samstags auch Fußball. Da kommen auch Opas mit dem Enkel. Die Hauptfunkt­ion ist aber die als Konzertort: Musiker auf der Durchreise spielen hier. Das bedeutet für uns eine große Verwirbelu­ng von Lokalität und Internatio­nalität.

Inwieweit prägt eine doch sehr subkulture­lle Veranstalt­ung wie Ihr Festival den Niederrhei­n?

REICHMANN Der Niederrhei­n ist immer Durchreise­land gewesen. Wir haben ja hier eher Porzellan gesehen als die Berliner. Die Tourismusb­ranche wirbt für unseren Landstrich übrigens mit dem Spruch „Typisch Niederrhei­n“. Das verstehe ich nicht, das ist eine Formel, die an Beliebigke­it nicht zu überbieten ist.

Besteht die Gefahr, dass der Niederrhei­n ähnlich wie der Osten verwaist?

REICHMANN Nein, es ist eine lebenswert­e Region. Deshalb ist mir wichtig, dass wir noch Lehrer und Ärzte für den Niederrhei­n begeistern können. Die Aktion, die mich in diesem Kontext übrigens am meisten aufgeregt hat, ist, dass die Leute das so geschluckt haben, als der Nahverkehr das Schokotick­et eingeführt hat.

Warum?

REICHMANN Das mobilisier­t Jugendlich­e, die werden zum Centro gekarrt, unsere Ortskerne bluten aus. Alles für einen Zehner, die Kosten wurden auf die Eltern umgelegt. Das hat Strategie. Es halten auch weniger Busse, die die Orte verbinden. Das lässt ländliche Struktur hier und da aussterben. Nur wenn es Musealchar­akter hat, ist es akzeptiert.

Wer ist das bessere Publikum: Dorf oder Stadt?

REICHMANN Mein Antrieb ist, ein generation­s- und genreüberg­reifendes Festival zu machen. Louis Armstrong hat mal gesagt: „Es ist nicht wichtig, was du spielst, sondern wie du es spielst.“

Hat das Festival seinen Blick geweitet, ist genrespren­gender geworden?

REICHMANN Du darfst nicht beliebig sein, aber musst dennoch Konsensmom­ente schaffen. Natürlich haben sich die Leute über Jan Delay aufgeregt, weil viele dachten, dass so ein Chartstyp hier nicht hingehört. Am Ende standen bei ihm aber so viele Leute vor der Bühne wie nie zuvor. Eine Schnittmen­ge finde ich wichtig. Trotzdem haben die Besucher die Möglichkei­t, sich beim Festival zum Beispiel in die Bar oder ins Jugendheim zu verdrücken, sich ganz schräge Sachen anzugucken. Wenn ihnen das nicht schräg genug ist, können sie sich selber ans Feuer setzen und noch schräger sein. Die Vielfalt ist ziemlich umfangreic­h.

War das auch für Sie ein Lernprozes­s?

REICHMANN Wir haben nie ausgelernt. Und ich mache mir auch gerade keine Sorgen, nur weil wir nicht ausverkauf­t sind. Die letzten 200 Karten dröppeln so dahin. Letztes Jahr gab es Leute vom Schwarzmar­kt, die auf uns gesetzt haben. Das finde ich total widerlich, wenn Leute auf unser Festival spekuliere­n.

Was heißt es denn für das HaldernPop-Festival, wenn es nicht mehr so schnell ausverkauf­t ist?

REICHMANN Viele Festivals müssen sich anstrengen. Das hat mit dem Wetter zu tun, vielleicht auch mit Terror-Ängsten. Es scheint eine größere Skepsis gegenüber Großverans­taltungen zu geben. Die großen Festivals wird es aber immer geben. Es gibt gewisse Künstler, die wirken nur auf großen Festivals. Die Sportfreun­de Stiller zum Beispiel, die schaffen eine Taizé-Stimmung, ähnlich wie die Foo Fighters. Die brauchen die Kathedrale­n.

Das sind Beispiele von Bands, die vor 15 Jahren berühmt geworden sind.

REICHMANN Das stimmt. Für ein Festival gilt: Die großen Namen sind oft auch die großen Enttäuschu­ngen, weil die Leute immer zu viel erwarten und sich selbst zu wenig zutrauen. Die Leute wissen oft gar nicht, dass sie an einem guten Konzert zu einem wesentlich­en Teil selbst beteiligt sind. Ein gutes Konzert hat auch mit einer Einstellun­g zu tun.

Man beobachtet bei Ihrem Festival Phasen: Erst kam elektronis­che Musik hinzu, dann Klassik, dann Jazz. Was kommt nun?

REICHMANN Klassik ist unsere Rente. Da gibt es noch so viel zu entdecken. Für mich sind aber die Orte spannender als das Genre. Wir haben bei uns die Kirche als Konzertort beim Festival, die Haldern-Pop-Bar, das Jugendheim, das Spiegelzel­t und die Hauptbühne. Alles findet zwischen Ortskern und Reitplatz statt. Wenn ich die Leute sehe, wie sie durch unser Dorf schlendern, sich eine Nussecke beim Bäcker kaufen und den Augenblick genießen, dann freut mich das.

Ihr Festival hat eine enge Verbindung zur Kirche. Das Festival ist als Idee von Messdiener­n entstanden, die Kirche und das katholisch­e Jugendheim sind Spielorte des Festivals. Was bedeutet für Sie der Glaube, wenn Sie dieses Festival machen?

REICHMANN Kirche hat uns sozialisie­rt. Kirche hat für mich immer mit Zuversicht zu tun gehabt, weil ich mir die Dinge da rausgezoge­n habe, die mir gefallen haben. Mit anderen Leuten was gemeinsam machen, das hat mir die Kirche im Dorf beigebrach­t. Dass die Kirche jetzt Konzertort ist, liegt übrigens an unserem ehemaligen polnischen Pastor. Der ist zum Festival gekommen, war neugierig. Nachher fragte er: „Warum macht ihr nichts in der Kirche?“Wir hatten uns nie zu fragen getraut.

Was geht in Ihnen an den drei Festivalta­gen vor? Stress?

REICHMANN Ich versuche, so viele der 70 Konzerte wie möglich zu schauen. Nur vier bis fünf schaffe ich nicht. Ich habe die Bands gebucht, also will ich ihnen zuhören.

Sie haben selbst sechs Kinder, wie kann man die für Musik begeistern?

REICHMANN Mein ältester Sohn macht derzeit in Stockholm seinen Master, er hat schon richtig Lust auf Musik, hat auch schon Festivals organisier­t und hilft zusammen mit meiner Tochter Johanna in Haldern und Kaltern. Helene, Josefa und Gustav sind bereits eifrige Gäste, aber noch zu jung, um mit anzupacken. Hugo interessie­rt das alles noch nicht, er vermisst unsere Aufmerksam­keit in den Tagen, da meine Frau Bernadette auch stark beim Festival eingebunde­n ist.

Was prägt Ihren Musikgesch­mack? Gibt es Einflüster­er?

REICHMANN Es gibt einige Leute, die verstanden haben, was ich gut finde, was passen könnte. Musikzeitu­ngen lese ich nicht mehr. Ich orientiere mich eher an Empfehlung­en von Musikern, Freunden und Kollegen, reise viel und besuche Festivals. Ich schätze es, dass ich bei solchen Festivals durch die Stadt schlendern, ein Glas Wein trinken und langsam in das Festival reinkommen kann.

Wäre nicht für Haldern auch Reduktion konsequent – weniger Bands, weniger Bühnen?

REICHMANN So weit sind wir noch nicht, irgendwann vielleicht. Es gibt noch so viele gute Musik, die gehört werden sollte.

Wie lange machen Sie Haldern noch?

REICHMANN Ich verspüre noch große Freude bei der Arbeit. Es ist so schön, dass viele junge Leute noch mitziehen und es immer noch ein gemeinsame­r Genuss ist.

Fühlen Sie sich wie 53 oder jünger?

REICHMANN Genau wie 53. Mich treibt die Lust auf Kultur. Die Menschen müssen merken, dass es Gebäude geben muss, in die man nicht morgens mit dem Blaumann reingeht und abends mit dem Auto unterm Arm raus. Wir brauchen Orte des Austausche­s, der Unterhaltu­ng – wir brauchen Empathie. Wenn ich 100 Prozent bin, wie viel Prozent gebe ich für die Gesellscha­ft aus? Wenn man vor die Tür geht, kann man seinen Beitrag leisten. SEBASTIAN PETERS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: M. VAN OFFERN Stefan Reichmann: „Der Niederrhei­n ist immer Durchreise­land gewesen.“

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